Stadt-Land-Fluss: Verbotenes N-Wort?

30. Oktober 2023 | Bild der Woche | 8 Kommentare

Die Sonne war schon fast untergegangen an diesem geradezu spätsommerlichen Oktoberwochenende. „Der Klimawandel hat schon Vorteile“, fand Heino. Mit Elfriede waren sie ein Stück hinausgefahren in Richtung Holleben, immer wieder neugierig, ob sie vielleicht doch noch auf eine lohnende „Wochenpflanze“ stoßen könnten, in dieser eigentlich an Arten ziemlich armen Landschaft, auf der sich die Felder in der ewig selben Monokultur bis zum Horizont erstreckten. Aber beide fanden, dass auch diese industrielle Landwirtschaft etwas zu bieten hatte. Nicht unbedingt Schönes, aber es war immer wieder interessant, wie jedes Jahr größere, imposantere Landmaschinen, Dinosauriern gleich, sich durch die Erde wühlten, gelbe Staubfahnen hinter sich herziehend. Oder diese fahrenden Giftspritzbrücken, deren helle Nebelschwaden im Gegenlicht der Sonne hell glitzerten. „Noch vor 150 Jahren arbeitete jeder zweite Mensch im Land in der Landwirtschaft. Und das war Knochenarbeit. Heute nur noch jeder achtzigste, und es ist größtenteils keine Knochenarbeit mehr.  Mit Riesenmaschinen durch die Gegend fahren, Melkanlagen steuern, wie auf einer Messwarte im Großkraftwerk“, dozierte Heino. „Ja, ich weiß. Und mit Glyphosat unsere Nahrung vergiften, sehr effizient“, unterbrach Elfriede den Redefluss des technikbegeisterten Mannes.

„Ohne das könnte man weder die Menschheit ernähren, noch könntest Du hier am Sonntagabend spazieren gehen, weil Du längst im Stall sein müsstest, um deine drei ausgehungerten Kühe zu melken.“ Heino konnte die Öko-Träumereien seiner Freundin manchmal nicht mehr ertragen.

Die beiden Zankenden warfen mittlerweile schon sehr lange Schatten über einen in oranges Licht getauchten Acker, dessen leuchtend grüner Bewuchs in einem geradezu surrealen Kontrast zum Braun der umgepflügten oder zumindest abgeernteten Felder stand. „Was ist das denn?“ entfuhr es Heino. „Um diese Zeit so hoch stehendes Grün?“ Neugierig näherten sie sich dem Rand des Feldes. Diese merkwürdigen Pflanzen hatten sie noch nie gesehen. Sie schienen planmäßig hier ausgesät worden zu sein. Das war kein „Unkraut“.

Heino richtete sein schlaues Telefon auf eines der Pflänzchen, deren mit lanzettartigen, gesägten Blättern gegenständig besetzten Stängel Blütenknospen trugen. Vereinzelt war sogar schon eine gelbe Blüte aufgegangen. Er schickte die Bilder mittels seiner Botanik-App ins Netz. Es kam promt Antwort zurück. „Ach, nie gehört“, gab er zu. „Ein bisschen nachgoogeln, Wikipedia, und das wird die nächste ‚PDW‘.“

„So einfach wird das nicht“, unterbrach Elfriede den voreiligen Eifer des Jungredakteurs. „Das N-Wort geht gar nicht, genau gesagt, das N-Wort in dem deutschen Namen“. Tatsächlich: Sogar im Landhandel, der die schwarzen Samen zu allen möglichen Zwecken anbot, fand sich immer wieder das unschöne Wort.

Langsam stieg Wut in Elfriedes Kopf auf. „Dieser Alltagsrassismus, wohin man auch sieht“, schrie sie.

Dass ein Mann mittleren Alters mit „südländischer Physiognomie“ an sie herangetreten war, hatten die beiden gar nicht bemerkt. Er legte der wütenden Dame seine Hand auf ihre Schulter, sie erschrak und schrie. „Fassen Sie mich nicht an, Hilfe“, gellten ihre Schreie über die Weiten der Landschaft. „Wer sind Sie, hauen Sie ab!“, Heino wollte dem ungebetenen Gast gleich an die Kehle. Der antwortete ganz ruhig: „Nennen Sie mich einfach Claudius. Ich wollte hier eigentlich nur helfen“, fügte er hinzu. Das verdatterte Pärchen blieb wie angewurzelt stehen. „Claudius“, meinen Nachnamen können die wenigsten Ihrer Landsleute aussprechen, komische Konsonanten am Anfang“.

„Wo wollen Sie hier helfen?“

„Ich will Ihnen erklären, dass das N-Wort der Pflanze nicht rassistisch ist. Es ist der Name eines Flusses. Sie müssen wissen, ich war Geograph. Habe alle Teile der Welt beschrieben, die Städte, die Entfernungen zwischen ihnen, alle Kontinente mit Flüssen und Bergen. Den Namen des Flusses habe ich der Sprache der dort lebenden Menschen entnommen und korrekt wiedergegeben. In meiner Sprache geschrieben war das dann ‚Νιγειρ‘. Das klingt wie das lateinische Wort für ’schwarz‘, aber in der Sprache der Leute, die am Ufer wohnten, hieß es einfach ‚großer Fluss‘.“

„Woher wissen Sie das alles? Sind Sie so viel gereist?“, fragte die nur noch verdatterte Elfriede.

„Quatsch. Alles angelesen. Mir kam zugute, dass ich in meiner Heimatstadt Zugriff auf die größte Bibliothek der Welt hatte. Das war wie Googeln heute. Und ich habe nicht nur Geographie betrieben, sondern natürlich auch das Weltall erklärt. Ich konnte zeigen, wie sich die Sonne um die Erde dreht, und die Bewegung der Planeten genau vorhersagen. Viele haben mich für meine Ansichten mehr als tausend Jahre später verspottet – aber selbst, als dieser Kopernikus alles umdrehte, konnte er die Bahnen der Gestirne nicht besser vorhersagen als ich.“

„Wollen Sie uns gleich noch erzählen, dass die Erde eine Scheibe ist?“ Für Heino war das alles wirres Zeug eines alten Mannes.

„Aber nein, ich bin doch nicht aus dem Mittelalter. Sie sehen doch, dass die Erde eine Kugel ist! “. Der merkwürdige Mann wies in Richtung Horizont: „Deshalb können Sie auch nicht weiter sehen als bis dort hinten. Und die Sonne fliegt im Bogen drumherum“

Damit entschwand die merkwürdige Gestalt und ließ zwei verwirrte Menschen zurück. Sie starrten auf das grüne Feld und wussten nicht mehr weiter.

So, das war jetzt jede Menge Text, und natürlich gibt es viele Fragen.

  • Um welche Pflanze geht es? (Sie hat mehrere Namen, neben dem wissenschaftlichen, mehrere deutsche Bezeichnungen)
  • Um welchen Fluss geht es hier, woher hat er seinen Namen und was hat er mit der Pflanze zu tun?
  • Wer war der merkwürdige Fremde?
  • Von welcher Bibliothek sprach er?
  • War die Erde im Mittelalter wirklich eine Scheibe?
  • Was kann man aus der Pflanze gewinnen ?
  • Warum wird sie in Holleben auf den Feldern angebaut, und was hat das mit Glyphosat zu tun?
  • Ein anderer gängiger Name für die Pflanze kommt aus dem Sanskrit. Und da steckt dann doch wieder das Wort „schwarz“ drin. Weil die Körner tatsächlich schwarz sind. Was bedeutet der Name dort?

Auflösung der letzten Pflanze der Woche: „Aufgeschmissen in der neuen Welt und mit dem Latein am Ende“: Symphyotrichum novi-belgii, Glattblatt-Aster

„Gork vom Ork“ identifizierte die Gesuchte als die Neubelgische Aster, Symphyotrichum novi-belgii, Glattblatt-Aster genannt. Es ist eine häufige Gartenzierpflanze, die jetzt im Herbst blüht. Der pflegeleichte, zumeist violett blühende Korbblütler stammt ursprünglich von der Ostküste Nordamerikas.

Aus Historia orbis terrarum, geographica et civilis.. J.C. Becmann Leipzig 1685. „Man nennt es Belgium oder Niederdeutschland, das Niederland. Drumherum liegen Ostfriesland, Westphalen, das Erzbistum Köln&Trier sowie Frankreich… „

Warum das „Neu-Belgien“ hieß, hatte dann Rugby herausgefunden: „Novum Belgium“, Neu-Belgien, nannten sich die Niederlande, die damals Kolonialherren an der Ostküste waren, und die Stadt Nieuw-Amsterdam gründeten. Die Stadt findet man nicht mehr auf der Karte. Als sie von den Briten 1664 erobert wurde, benannten sie sie um: in New York  (Benannt nach der niederländischen Stadt York). Das  alte „neu Amsterdam“ lag etwa da, wo heute Manhattan liegt.

Bild: Nieuw Amsterdam (Ausschnitt aus Nicolaes Visscher 1656 entstandener Karte Novi Belgii Novæque Angliæ)

Richtig war auch Rugbys Erklärung zu Batavia: die Stadt im heutigen Indonesien war Hauptquartier der Niederländischen Ostindienkompanie. Ihr Name leitete sich vom germanischen Stamm der Bataver ab, den die Niederländer auch für ihre Urväter“ hielten. Die Stadt heißt heute Jakarta.

Alle anderen Pflanzen der Woche, seit 2016, findet Ihr hier im Archiv

 

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