Offener Brief an die Bundeskanzlerin, 20.02.2020

20. Februar 2020 | Politik | 6 Kommentare

Anlass: Amtsübergabe an den neuen Präsidenten der Leopoldina

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

wäre eine andere Person Kanzlerin, dann würde ich versuchen, ihr anhand der gesicherten Fakten und Daten den Ernst der Lage klar zu machen. Ich würde etwas über die zwei bis vier Gigatonnen CO2-Äquivalent Restbudget für ganz Deutschland erklären, und detailliert aufzeigen, warum wir ab sofort alles daran setzen müssen, sehr schnell viel weniger Kohle, Erdöl und Erdgas zu verbrennen. Ich würde erklären, dass wir nach wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen ab sofort alle öffentlichen Investitionen, Subventionen und Steuern darauf ausrichten müssen, weniger Ressourcen zu verschwenden, die Emission von Treibhausgasen zu stoppen und unsere gesamte Wirtschaft umzustellen auf das dekarbonisierte 21. Jahrhundert.

Außerdem würde ich ihr die Studie der Leopoldina vorhalten, nach der sofort ein deutlicher und weiter steigender CO2-Preis unerlässlich ist, im besten Falle sozial abgefedert durch pauschale Entlastungen und Rückzahlungen, und ihr vorhalten, welche Gefahren und Kosten und Schäden drohen, wenn wir die Emissionen nicht ab sofort massiv reduzieren.

Aber Sie sind nicht irgendeine Spitzenpolitikerin, sondern Sie sind promovierte Physikerin und die Autorin des 1997 veröffentlichten Buches “Der Preis des Überlebens”. Darin fordern Sie selbst, damals noch als Umweltministerin, die zügige Reduktion der Treibhausgasemissionen, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Das ist 23 Jahre her. Heute wird Herr Prof. Dr. Gerald Haug der neue Präsident jener Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, welche die Politik mit ihren Stellungnahmen zu drängenden Themen der Gesellschaft berät, die einer wissenschaftlich fundierten Bewertung bedürfen.

Sie wissen genau, wie bedrohlich die Folgen unserer Wirtschafts- und Konsumpolitik sind, um welche Stoffmengen und Energieüberschüsse es geht. Sie begreifen, wie viel Petajoule Energie allein der Ozean und die schmelzenden Eismassen aufgenommen haben. Sie haben über den Treibhauseffekt geschrieben, als viele Demonstranten von Fridays for Future noch gar nicht geboren waren. 

Die heute dringend notwendigen politischen Impulse und Aktionen sind längst  niedergeschrieben, seit fast einem Jahr haben Fridays for Future auf Bundesebene kurze, klare und wissenschaftlich gut abgesicherte Forderungen zusammengetragen. Ich hoffe sehr, dass Sie diese Forderungen kennen.

Alle Experten sind sich darüber einig, dass unser Verhalten der nächsten Monate darüber entscheidet, wie groß das kommende Leid und die kommende Not werden, wie hoch unsere Schulden bei den Kindern und Jugendlichen sein werden, wenn diese unsere Fehler ausbaden müssen. Heute entscheiden wir, wie groß die Zerstörungen an unseren Lebensgrundlagen sein werden, welche Kipppunkte praktisch irreversibel umschlagen, und wie schwer und hart es wird, in 20, 30 oder 50 Jahren zu überleben. Jetzt ist einer der entscheidenden Momente der Menschheitsgeschichte, und Sie, Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel, stehen an einer ganz entscheidenden Position in diesem Moment. Wir stellen jetzt die Weichen:

Ein Gleis führt in eine gerade noch beherrschbare Klimakrise, das andere Gleis führt in eine schwer vorstellbare Dystopie, mit hohem Risiko von Lebensmittelknappheit, Trinkwassermangel, Bürgerkriegen um die knapper werdenden Ressourcen, umfassenden Wirtschaftskrisen und millionenfachem Elend, Leid und Tod.

Sie tragen seit vielen Jahren hohe politische Verantwortung, und werden nicht noch einmal als Bundeskanzlerin kandidieren. Auch wenn Sie für menschlich und gesellschaftlich notwendige und richtige Entscheidungen beschimpft und gehasst werden, müssen Sie jetzt handeln!

Wir können nicht weitere Jahre warten, bis die nächste Kanzlerin oder der nächste Kanzler dieses große Thema angehen. Sie sind heute Kanzlerin, und stehen heute an der Spitze einer der größten Industrienationen der Welt. Falls es in 50 und 100 Jahren noch Geschichtsbücher im heutigen Sinne gibt, wird man sich fragen, warum ausgerechnet Sie heute nicht gehandelt haben, warum ausgerechnet eine Bundeskanzlerin mit großer Expertise zur Klimakrise und den notwendigen Umstellungen dieses Problem einfach ausgesessen hat.

Deshalb meine dringende Bitte als Mensch, als Bürger dieses Landes und als Klimaaktivist:

Stellen Sie endlich klar, vor welch großer Herausforderung wir als Industrienation stehen. Welche Bedrohungen, aber auch welche Chancen in der jetzt notwendigen Transformation liegen. Stehen Sie öffentlich dazu, wie schnell wir die Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas beenden müssen, wie viel gemeinsame Anstrengungen und Kompromisse und gegenseitige Hilfe notwendig sind, um diese große Aufgabe zu lösen. Stellen Sie sich gegen die Lügen und falschen Träume von einer Fortsetzung des Status Quo, von einer zu entwickelnden Zaubertechnik. Sagen Sie die ungeschminkte, harte Wahrheit, stehen Sie zum Ausmaß dieser Krise, die wir aus Gier und Bequemlichkeit gemeinsam verursacht haben. 

Machen Sie deutlich, dass wir die Solar- und Windenergie ausbauen müssen, sogar vervielfachen, und trotzdem sehr sparsam mit den verfügbaren Ressourcen umgehen müssen. Dass wir in der Energieversorgung und im Verkehr, in der Produktion und im Konsum, in der Lebensmittelherstellung und unseren Essgewohnheiten, in den Bereichen Arbeiten und Wohnen große Veränderungen brauchen. Nur wenn man die anstehenden Aufgaben ehrlich und klar benennt, kann man sie auch meistern. Schluss mit der Politik der Angst, des Zögerns, des Abwartens. Schluss mit dem Verschweigen des verfügbaren Restbudgets.

Wir brauchen heute mehr denn je eine Politik voll Mut und Entschlossenheit, Klarheit und Ehrlichkeit, eine Politik der Dekarbonisierung, der nachhaltigen Lebensstile und einer nachhaltigen Wirtschaft. Tell The Truth!

Geben Sie endlich den Startschuss, damit wir als Gesellschaft diesen Wettlauf annehmen. Den Wettlauf gegen die Klimakrise und den sozialen Zerfall, gegen Hetze und Spaltung und Hass, gegen sinnlose Zerstörung und Verschwendung. 

Wir brauchen die ganze Kreativität und die enorme Leistungsfähigkeit, zu der die Menschen fähig sind, wenn sie gemeinsam große Herausforderungen meistern müssen. Den Erfindungsgeist, die Kooperation, das Zusammenspiel unserer Stärken und Fähigkeiten, die Suche nach Kompromissen. Wir brauchen neue Formen der politischen Zusammenarbeit, die weit über Parteipolitik und Konkurrenz hinaus gehen, die besser geschützt sind gegen Lobbyismus – ein vielversprechender Ansatz sind Bürger:innenversammlungen, oder “Runde Tische”. 

Wir brauchen eine sozial ausgewogene Umsetzung der Forderungen von Fridays for Future, Scientists for Future und den anderen Experten, ein Ende der Subventionierung fossiler Brennstoffe und des motorisierten Individualverkehrs. Ein Ende des Konsumwahns, der kurzlebigen Produkte und der Verschwendung – und wir brauchen all das, ohne Millionen Menschen in eine wirtschaftliche Notlage zu bringen. 

Sie können heute einen Impuls in die richtige Richtung setzen. Tun Sie es!

Halle/Saale, 20.02.2020

Marco Gergele, XR und FFF Halle/Saale

Leopoldina

Nationale Akademie der Wissenschaften

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