Wie lassen sich Europas letzte Urwälder retten?

22. September 2020 | Bildung und Wissenschaft, Natur & Gesundheit | 9 Kommentare

 

Nur um ein Prozent müssten die Waldschutzgebiete Europas ausgeweitet werden, um die meisten verbliebenen europäischen Urwälder zu schützen. Dies hat ein internationales Forscherteam unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) errechnet. Die im Fachjournal „Diversity and Distribution“ veröffentlichte Studie erfasst erstmals europaweit die Verbreitung und den Schutzstatus der letzten weitestgehend unberührten Wälder. Sie zeigt, an welchen Stellen dringender Handlungsbedarf zur Erhaltung besteht und liefert wertvolle Informationen zur Umsetzung der neuen EU-Biodiversitätsstrategie.

Urwälder, wissenschaftlich Primärwälder genannt, sind Wälder ohne Anzeichen früherer menschlicher Nutzung, in denen ökologische Prozesse nicht durch menschliche Einflüsse gestört oder unterbunden werden. Solche Primärwälder haben einen herausragenden ökologischen Wert. Sie sind ein unersetzlicher Teil des Naturerbes und entscheidend für die Erhaltung der biologischen Vielfalt. In Europa, wo die Menschen die Waldlandschaften über Jahrtausende genutzt und verändert haben, gibt es nur noch sehr wenige solcher Wälder.

Doch trotz ihres ökologischen Wertes sind viele Primärwälder nicht ausreichend geschützt und werden weiterhin abgeholzt. Die kürzlich veröffentlichte „EU-Biodiversitätsstrategie für 2030“ betont ausdrücklich den hohen Naturschutzwert von Primärwäldern und die Notwendigkeit, diese zu schützen. Allerdings blieb bisher unklar, an welchen Stellen diese in Europa am schutzbedürftigsten sind.

Ein Team von Wissenschaftlern aus 28 Institutionen unter der Leitung von Dr. Francesco Sabatini (iDiv, MLU) und Prof. Dr. Tobias Kuemmerle (HU) hat deshalb nun die erste Bewertung der Verteilung und des Schutzstatus‘ der Urwälder Europas vorgelegt.

„Während viele europäische Primärwälder in der Tat gut geschützt sind, haben wir auch viele Regionen identifiziert, in denen dies nicht der Fall ist. Insbesondere dort, wo sie noch relativ weitverbreitet sind“, erklärte Dr. Sabatini: „Und dort, wo sie geschützt sind, reicht der Schutzstatus in einigen Fällen nicht aus, um die Wälder langfristig zu erhalten.“

Die Studie hebt auch hervor, dass die verbleibenden Primärwälder in Europa sehr ungleichmäßig verteilt sind. „In einigen Regionen, insbesondere in Nord- und Osteuropa, gibt es noch viele Primärwälder. Aber oft erkennen diese Länder nicht, wie einzigartig und schutzwürdig sie aus europäischer Sicht sind“, erklärte Prof. Dr. Tobias Kümmerle von der HU Berlin, Letztautor der Studie: „Gleichzeitig war es schockierend zu sehen, dass von vielen natürlichen Waldtypen überhaupt keine Primärwaldreste mehr übrig sind, insbesondere in Westeuropa.“

Insgesamt bezeichnen die Wissenschaftler den Zustand der Urwälder Europas als gefährdet. „Es sollte höchste Priorität der Politik sein, diese Wälder langfristig zu schützen“, sagte Kümmerle. „Und wo keine Primärwälder mehr vorhanden sind, die geschützt werden können, müssten sie renaturiert werden. Bis solche renaturierten Wälder ökologisch wieder echten Primärwäldern ähneln, dauert es lange. Dennoch lohnen sich solche Maßnahmen, da diese Wälder nicht nur der biologischen Vielfalt zugutekommen, sondern auch viel Kohlenstoff speichern und damit zur Minderung des Klimawandels beitragen.“

Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass selbst eine Ausdehnung der Schutzgebiete um nur etwa ein Prozent ausreichen würde, um die meisten verbliebenen Primärwälder in Europa zu schützen, was nur zwei bis drei Tausendsteln der gesamten Landesfläche Europas entspräche.

„Jetzt ist es an der Zeit, mutig für die Erhaltung und Wiederherstellung der Wälder in Europa einzutreten“, sagte Sabatini: „Die neue Strategie betont ausdrücklich den unersetzlichen Wert der Primärwälder und ihren Schutzbedarf. Unsere Studie bietet nun eine Grundlage für die Umsetzung dieser Strategie in die Praxis.“

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