Kinder an der Macht

1. Mai 2017 | Kultur | Keine Kommentare

Zu Beginn tritt Edmund (Alexander Gamnitzer) auf und zeichnet mit Kreide ein Viereck auf die leere Bühne – so wie Kindern hätte das auch Shakespeare gereicht, um einen Spiel-Raum zu markieren, hier: den Hof König Lears. Bevor der mit seinem Gefolge dort erscheint, verkündet Edmund den Zuschauern seine Sicht auf die Dinge: Europa und seine Eliten sind am Ende und wert unterzugehen. Das steht zwar nicht bei Shakespeare, doch liegt es nahe, das, was in „König Lear“ passiert, in Beziehung zu setzen zu Brexit, Terror und durchgedrehten Staatslenkern von heute. Die Form des gesprochenen Leitartikels wäre da gar nicht nötig gewesen, zumal anschließend die anti-europäische Gegenrevolution überzeugend ins Bild gesetzt wird: Ihre Nationalflaggen schwenkend rennen die Umstürzler über die Bühne, ausgerechnet zu den Klängen der „Internationale“ – aber lautete da die Hauptzeile nicht „Völker, hört die Signale“?

Hass, Wahnsinn, Tod, Untergang

Hagen Ritschel als Edgar (Fotos: Falk Wenzel)

Edmund ist der Sohn des Grafen Gloster, leider unehelich gezeugt und damit rechtlos. So hat er ausreichend Grund, die bestehenden  Verhältnisse einzureißen, nicht offen natürlich, sondern als charmant-schlauer Intrigant, der seinen Vater sowie Halbbruder Edgar, den rechtmäßigen Erben, eben einfach beseitigen muss.  Da haben es die Töchter Lears leichter, denn der entmachtet sich selbst, indem er sein Reich an jene beiden verschenkt, die ihm maßlose Liebe heucheln, während  er die jüngste, ehrliche verstößt. So kommen die Kinder an die Macht, leider die missratenen, während die guten – Glosters Sohn Edgar und Lears jüngste Tochter Cordelia – fliehen müssen bzw. vom Vater selbst verstoßen werden. Und Kent, der treueste von Lears Gefolgsleuten, der ihn zur Besinnung bringen will, gleich mit dazu.

Das ist der Anfang vom Untergang Britanniens und die Tragödie nimmt ihren shakespeareschen Verlauf: Die beiden lügnerischen Töchter verstoßen nun ihrerseits den Vater (Alter ist unnütz.); Lear, nur von seinem Narren und Kent begleitet, verfällt dem Wahnsinn; der junge Edgar muss um sein nacktes Leben rennen; der alte Gloster wird geblendet; Lears Erbinnen gehen aus Eifersucht über Leichen; Cordelia, Lears Jüngste, kehrt zwar heim, um ihren Vater zu retten, wird aber im letzten Moment noch erhängt; Lear bricht darob buchstäblich das Herz; nur Edgar und Kent bleiben am Schluss übrig.

Spiel im Spiel

In der Inszenierung von  Henriette Hörnigk fallen die Opfer zum Schluss einfach tot um, das ist konsequent und komisch zugleich. Wie überhaupt in dieser Inszenierung eines Weltuntergangs zwischendurch auch seine komischen und grotesken Momente aufblitzen und das Spiel im Spiel  betont wird: Annemarie Brüntjen ist nicht nur Cordelia, sondern auch der Narr in einem clownesken Allerleirauh-Kostüm – ein überzeugender Einfall. Sie bewältigt das mit zarter Innigkeit, Frische und schöner Leichtigkeit, zumal sie auch singen und Gitarre spielen und dadurch den oft dunklen Aussagen des Narren die gehörige Poesie verleihen kann. Auch Graf Kent ist mit Elke Richter ungewöhnlich besetzt und nimmt eine neue Identität an: Die von ihrem Chef gerade gefeuerte Protokollchefin verwandelt sich in eine Art Wahlkampfhelfer; ein kleiner trauriger Chaplin, der Lear unbeugsam und mit Witz beisteht. Und dann Hagen Ritschel als Edgar! Ein hyperaktiver Naiver, der seinem bösen Bruder blind vertraut, weil der selbst die ausufernde Choreografie jugendlicher Freundschaftsrituale perfekt beherrscht – ein darstellerisches Kabinettstückchen. Auf der Flucht nimmt er einen anderen Namen an, um sein nacktes Leben zu retten – im wahrsten Sinne des Wortes, denn irgendwann legt er auch noch seine Glitzerbadehose ab und huscht oder springt verzweifelt über die Szene, um unauffindbar zu bleiben. Das ist ungeheuer komisch, gerade in der schutzlosen Nacktheit aber auch berührend. Und natürlich ist auch Lear (Hilmar Eichhorn) im Wahnsinn nicht mehr er selbst: In unsicheren Schrittchen tapert der einst mächtige, aufbrausende König, gestützt von seinen Getreuen, über die Bühne oder er sitzt starr in einem Fahrradwägelchen, das vom Narren über die Bühne gefahren wird.

Großer Sturm

Lears Wahnsinn bricht aus, als er, von seinen Töchtern verstoßen, in einen Sturm gerät. Es ist die große Metapher des Stücks und auch die wunderbarste Szene dieser Inszenierung, in der nicht nur die plötzliche Unbehaustheit Lears klar, sondern auch die bisherige Ordnung durcheinander gewirbelt wird, und zwar mit nichts weiter als einer Windmaschine und einem die ganze Bühne ausfüllenden Tuch. Auch sonst überzeugt die Ausstattung von Claudia Charlotte Burchard: Kostüme, die das Geschehen ins Heute übersetzen, aber nicht platt, sondern mit einem Stich ins theatralische Überhöhte; eine Bühne, die ganz oben eine Galerie hat für den Gospelchor bzw. die Gefolgschaft Lears und auf der ansonsten nur weiß ausgeleuchtete Kästen hin und her geschoben werden, die an gläserne Kühltruhen oder auch Särge erinnern und alles Mögliche sind: Requisitenbehältnis, Versteck, Foltergerät, Katafalk oder OP-Tisch.

Schade, dass die am Anfang aufgespannte politische Dimension des Dramas am Ende in der privaten Tragödie versickert. Das wird auch nicht wettgemacht durch Heiner Müllers „Der Horatier“, ein Lehrstück-Text, der plötzlich einmontiert ist und in dem es um die moralische Bewertung des   Revolutionärs geht: Soll er als Held verehrt oder als Mörder getötet werden? Damit wird kurz vor Schluss ein ganz neues Problem aufgemacht, das wegführt von der bis dahin verfolgten gedanklichen Linie. Und den mit 3,5 Stunden ohnehin langen Abend unnötig aufbläht.

Dennoch: Eine sehenswerte Inszenierung mit vielen großen, schönen Momenten. Und einem durchweg starken Ensemble.

Eva Scherf

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