Pietätlos und laut: Initiativen kritisieren Zusammentreffen von Anschlagsgedenken und Mitteldeutschem Marathon am 9. Oktober auf dem Markt

30. September 2022 | Politik | 4 Kommentare

Zivilgesellschaftliche Initiativen kritisieren die geplante  Durchführung des Mitteldeutschen Marathons in Halle am dritten Jahrestag des Anschlags vom 9. Oktober 2019. Halle gegen Rechts – Bündnis für  Zivilcourage, die Mobile Opferberatung, der Evangelische Kirchenkreis Halle-Saalkreis, der Friedenskreis Halle e.V. und die  Freiwilligen-Agentur Halle-Saalkreis e.V. appellieren an die Stadtverwaltung und die Veranstalter des Mitteldeutschen Marathons für  einen sensibleren Umgang mit dem Gedenken an den Anschlag in Halle und  Landsberg-Wiedersdorf.

Bereits seit dem Frühjahr hatte es einen gemeinsamen Austausch zwischen  der Stadtverwaltung, der Jüdischen Gemeinde und zivilgesellschaftlichen  Initiativen zur Gestaltung des Jahrestags des Anschlags gegeben, an dem  auch die genannten Initiativen beteiligt waren. In der letzten Sitzung  gaben die Stadtverwaltung und Veranstalter überraschend bekannt, dass am  Jahrestag des Anschlags der Mitteldeutsche Marathon in Halle stattfinden  solle. Dies auch auf dem Marktplatz, auf dem in den letzten Jahren tausende Menschen Blumen und Kerzen niedergelegt und ihre Solidarität mit Angehörigen, Überlebenden und Betroffenen ausgedrückt haben.

Das Bündnis und die benannten Initiativen hätten sich bei Planung und Vergabe von den Verantwortlichen mehr Fingerspitzengefühl gewünscht. Gedenken, Anteilnahme, Innehalten und Solidarität zur gleichen Zeit wie ein großes, lautes Sportereignis in der Mitte der Stadt passen nicht zusammen.

Dass die Stadtverwaltung und der Veranstalter für den Mitteldeutschen Marathon kein anderes Datum gefunden haben, ist kaum nachvollziehbar. Es ist ein Zeichen dafür, dass sich die Tragweite des Anschlags immer noch nicht ausreichend im städtischen Gedächtnis manifestiert hat. Bereits frühzeitig müssen Konstellationen, wie ein Zusammentreffen des Gedenkens mit einem sportlichen Großereignis, benannt und diskutiert werden. Das gebietet ein partnerschaftlicher Austausch zwischen den Beteiligten und ist gleichzeitig die Erwartung der genannten zivilgesellschaftlichen Institutionen an künftige Gespräche.

Stadt und Veranstalter sind nun in der Pflicht, zwischen sportlicher Großveranstaltung und einem Gedenken, dass die Würde der Opfer und
Betroffenen achtet, einen Ausgleich zu schaffen. Ein Verzicht auf Musik und einer Kommentierung des Marathongeschehens im Gedenkzeitraum 12 – 13 Uhr ist ein erwartbares Minimum.

Halle gegen Rechts kritisiert den Umgang der Stadtverwaltung mit dem Jahrestag als unwürdig, zukünftig brauche es vor allem ein offenes
Angebot an alle Angehörige, Überlebende und Betroffene des Anschlags, die Gestaltung des Jahrestags mitzubestimmen – anders als in diesem
Jahr. Der Evangelische Kirchenkreis seinerseits ist zuversichtlich, „dass Stadt und Veranstalter des Marathons sensibel und pietätvoll
agieren werden, so dass das stille Gedenken zum damaligen Tatbeginn um 12:03 Uhr sowie die Gedenkandacht um 12:30 Uhr der Würde von Opfern und Betroffenen gerecht werden können“, sagt Torsten Bau. Für den Friedenskreis ist entscheidend, dass alle Akteure weiter im Gespräch bleiben und insbesondere die Betroffene aktiv einbezogen sind: „Die Gestaltung des Anschlagsgedenkens in diesem Jahr gilt es kritisch auszuwerten und Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.”, so Christof Starke. Die Freiwilligen-Agentur hofft für die Zukunft auf einen sensibleren Umgang mit dem Jahrestag des Anschlags, der in der gesamten Stadt ein Tag des Innehaltens und Gedenkens sein sollte.

Halle gegen Rechts und die Mobile Opferberatung werden stadtweit mit Großflächenbannern und Plakaten auf den Jahrestag aufmerksam machen, der Ev. Kirchenkreis lädt zu einer Andacht in die Marktkirche ein, Friedenskreis, Bündnis und Kirchenkreis werden am Abend zu einem stillen Gedenken auf dem Markt einladen, der WELCOME-Treff der Freiwilligen-Agentur öffnet seine Räume für Begegnung und Gespräche. Alle bekannten Kundgebungen, Veranstaltungen und Informationen finden sich ab Samstag unter https://anschlag.halggr.de

Kritik kommt auch von den JUSOS. In einer Mitteilung schreiben sie:

“ Nicht einmal drei Jahre hat es die Stadt Halle gekostet, um über den antisemitischen, rassistischen und rechtsextremen Anschlag am 09. Oktober 2019 hinwegzukommen. Nur so lässt es sich erklären, dass die Stadt es zulässt, dass am Tag des Gedenkens an diesen Anschlag, ein freudiges Großereignis wie der Mitteldeutsche Marathon mitten in Halle stattfinden darf. Diese Entscheidung verstört uns zutiefst. Nicht zuletzt, da die gesellschaftliche Hierarchie des Trauerns erneut zulasten der Opfer von Antisemitismus und Rassismus ausfällt. Während die deutsche Dominanzgesellschaft ausgelassen den Marathon feiern kann, müssen die Angehörigen der Opfer wieder einmal trauern.

Die Zusicherung des Veranstalters “run e.V.”, die Veranstaltung entsprechend dem Gedenktag anzupassen, ist eine Farce. Im 24. Amtsblatt 2022 der Stadt Halle heißt es zum Marathon, dass man es “bunt” haben möchte am Rand der Strecke, “Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt: Straßenkunst, Plakate, Musik, Getränke – vieles ist möglich.” Wie man unter diesem Motto dem Gedenken Rechnung tragen möchte, ist mehr als unverständlich.

Auch die Begründung der Stadt, der Marktplatz sei kein Gedenkort, daher sei dort kein Gedenken geplant, ist mindestens strittig. Sicher können alle Interessierten an dem Tag auch zu den offiziellen Gedenkorten an der Synagoge und dem TeKiez kommen, wozu wir ausdrücklich aufrufen. Es ist aber eine Frage des Anstands, ob wir am Jahrestag des Anschlags auf dem zentralen Marktplatz ein buntes Fest des Sports feiern, als wäre nichts gewesen oder Rücksicht auf die Betroffenen und Opfer nehmen. Bereits in den letzten Jahren wurde die Stadt für die fehlende gesellschaftliche Aufarbeitung kritisiert. Diese Kritik war offenbar mehr als gerechtfertigt. Erst vor einem Jahr betonte Bürgermeister Egbert Geier in Bezug auf den Anschlag: “vergessen und relativieren wird es nicht geben. Das ist unsere Verpflichtung als weltoffene Stadt”. Damit diese Worte nicht als schamlose Lüge und Verhöhnung aller Betroffenen dastehen, muss man ihnen Taten folgen lassen. Daher fordern wir als Jusos Halle (Saale), dass es an dem Tag des Gedenkens, am 09. Oktober keinen Mitteldeutschen Marathon in Halle geben darf!

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