Formicozän statt Anthropozän? (Teil 2)

19. Juni 2021 | Bildung und Wissenschaft, Nachrichten, Umwelt + Verkehr | Keine Kommentare

Ameisen sehen und Hören meist nicht besonders gut. Ihr Geruchssinn ist dagegen oft exzellent.  Ihre Kommunikation beruht auf chemischen Signalen, die bestimmte Entwicklungen und Verhaltensweisen bewirken. Man versteht zunehmend, wie chemiegesteuert die einfachen und komplexen Organisationsformen der Ameisen sind. Wir Menschen sind zwar keine Ameisen, aber es zeigen sich doch erstaunliche Parallelen in der Soziobiologie.

Bulldogameisen -bissig und primitiv

Ameisenvölker gibt es mit unterschiedlich weit entwickelten sozialen Strukturen. In Australien leben große, aggressive Bulldogameisen, die als extrem aggressive Jäger auch große Beute überwältigen können, dabei aber kaum kooperieren. Jeder kämpft für sich. Ihr Kommunikationssystem ist relativ schlicht. Ein Volk umfasst kaum mehr als 1.000 Tiere, hat den Charakter einer bloßen Jagdgemeinschaft, die in einem einfachen Tunnelsystem lebt. Die Beute wird im Rohzustand zerrissen und verspeist. Eine Aufbereitung der Nahrung zum Wohle der Nachkommen kennen die primitiven Jäger noch nicht. Die Larven müssen für sich selbst sorgen und sie können dabei sogar zu Kannibalen werden. Die begattete Königin unterscheidet sich nur geruchlich von ihren Nestgenossen. Sie produziert nicht besonders flott Eier, die mit etwas Glück von den Arbeiterinnen zwar schonend, aber eher lustlos in eine Brutkammer geschafft werden. Die Nestgenossen erkennen sich gegenseitig und verteidigen bei Bedrohung aggressiv beißend und mit Giftstachel stechend  ihr Volk. 

Friedvolle Gärtner

Weitaus friedlicher sind bei uns heimische Gärtnerameisen. Sie legen ihre Nester unter Steinen an, denn die von der Sonne erwärmten Steine speichern die Wärme für kühle Nächte. Nimmt man den schützenden Stein weg, scheint das Panik bei den freigelegten Ameisen auszulösen. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass keine planlose Flucht stattfindet. Zuerst werden die Kokons und schlupfbereiten Puppen in Sicherheit gebracht, dann die Larven, am Schluss die Eier. In die Puppen und Larven ist bereits viel investiert worden. Ihre Rettung lässt die Kolonie mit wenig Aufwand regenerieren. Der Verlust von Eiern kann durch die hohen Eiproduktionsraten leicht kompensiert werden. Erst jetzt wird der Bau repariert. Alles dient dem Wohl der Kolonie, nicht dem Individuum.

Bild: Freigelegtes Ameisenvolk bringt Puppen in Sicherheit

Wanderhirten

Manche Ameisenarten halten sich Blattläuse, um sie als Nahrungsquelle zu benutzen. Sie halten sich Blattläuse sozusagen als Nutzvieh. Die Läuse scheiden nämlich Honigtau aus, den die Ameisen gerne fressen. Der Honigtau ist sehr nahrhaft: Die Blattläuse ernähren sich von zucker- und eiweißhaltigen Säften, die sie mit ihrem Rüssel aus den Leitungsbahnen der Pflanzen abzapfen. Nur ein geringer Teil der aufgenommenen Nahrung kann von den Blattläusen verdaut werden – der Rest wird ausgeschieden. Mit einem Trick kommen die Ameisen an den nahrhaften Saft. Sie trommeln mit ihren Antennen auf das Hinterteil der Blattläuse – und schon geben die Läuse das nahrungsreiche Sekret ab. Lassen Ergiebigkeit und Qualität nach, verbringen die Ameisen die Blattläuse an ergiebigere Stellen. Fressfeinde der Läuse, z.B. Marienkäfer, vertreiben die Ameisen.

Ameisen mit „Blattlauskühen“

Wanderameisen

In Amerika leben nomadisierende karnivore Ameisenvölker, die erfolgreich und aggressiv umherziehen. An dieses Wanderleben sind diese als Wander- oder Treiberameisen bezeichneten Insekten, im Englischen Armyants genannt, durch nahezu militärische Organisation bestens angepasst. Kundschafterameisen schwärmen aus und rekrutieren bei Entdeckung von Beute Helferinnen. Wahre Heerzüge mit vielen hunderttausend Individuen entstehen. Durch die gemeinschaftliche Jagd kann auch besonders große Beute überwältigt werden, ebenso andere wehrhafte Ameisenstaaten. Die Wanderwege sichern Soldaten. Durch ihre Beutezüge beeinflussen die Ameisen das lokale Ökosystem. 2 Strategien werden bei den Raubzügen angewendet: Schwarmmitglieder trennen sich in kleine Gruppen ab und durchsuchen Gebiete nahe der Hauptroute. Andere trennen sich ebenfalls vom Hauptschwarm und suchen kreuz und quer ausschwärmend nach Beute. Gibt es keine Beute mehr in Nestnähe zieht der Ameisenschwarm weiter. 

Eine ungeflügelte Königin sorgt im Volk für Nachwuchs. In zu groß gewordenen Kolonien sammeln Jungköniginnen einen Teil des Volkes um sich und wandern ab. In der Verwandtschaftsgruppe der Wanderameisen gibt es eine Reihe von Spezialisierungen. 

Sklavenhalter

Es gibt Ameisen, die andere  Völker überfallen, deren Eier und Puppen stehlen, aus denen dann Sklaven entstehen, die alle Arbeiten erledigen, wie z.B. Nachwuchspflege, Futterbeschaffung, Verteidigung. Die Sklavenhalter sind auf die Sklaven angewiesen. Eine weitere Taktik der Versklavung besteht darin, dass Sklavenhalterameisen in einem fremden Nest den Weg freikämpfen, eine Jungkönigin folgt, die legitime Königin sucht und tötet. Mit deren Duft parfümiert sie sich dann, so dass das eroberte Volk ihr willig zu Diensten steht. Eine andere perfide Taktik besteht darin, dass Sklavenhalter im fremden Nest ein Evakuierungpheromon abgeben, die Fremdameisen daraufhin alles stehen und liegen lassen und die Sklavenhalter unbehelligt Eier, Larven und Puppen in ihr Nest verschleppen. In Europa gibt es eine Sklavenameisenart, die deutlich größer ist als ihre Opfer. Eine solche Königin dringt in das fremde Nest ein, sucht die legitime Königin und erwürgt sie. Manchmal wehren sich die versklavten Ameisen mit Attentaten, indem sie den Nachwuchs der Sklavenhalter ermorden und die Sklavenhalter dadurch an ungehemmter Zunahme hindern – eine Investition, die sie selbst nicht aber zukünftige Völker schützt. 

Die Beispiele zeigen, nicht das Wohl des Individuums, sondern allein das der Kolonie steht bei Ameisen im Vordergrund. Die einzelne Ameise handelt selbstlos, und trägt so dazu bei, den Ameisenstaat aufrecht zu erhalten. Das Organisationssystem der Ameisen ist allerdings in der Realität keineswegs so perfekt, wie man meinen könne. Um das Betrügen, Tricksen und Schmarotzen geht es im 3.Teil. 

(H.J. Ferenz)

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