Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie
15. April 2020 | Bildung und Wissenschaft | 9 KommentareWährend die Leopoldina laviert oder mit weltfremden Vorschlägen aufwartet, siehe Schulen, kommt die wissenschaftliche Klarheit in einer uns vorliegenden Stellungnahme der Helmholtz-Initiative zum Tragen, die auch in die heutigen Überlegungen der Bundeskanzlerin, Frau Merkel, mit ihrem Stab und den Ministerpräsidenten einfließen wird:
„Eine wesentliche Frage betrifft die Kriterien, den Zeitpunkt und die Maßnahmen, um schrittweise in die Normalität zurückzukehren, ohne eine Überforderung des Gesundheitssystems bei der Versorgung von infizierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu riskieren. Die Beantwortung dieser Frage wird viele Gesichtspunkte berücksichtigen und potentielle Zielkonflikte auflösen müssen, ohne auf eine solide abgesicherte Wissensbasis zurückgreifen zu können. Mit diesem Positionspapier wollen wir eine bewertende Perspektive auf die aktuelle Lage der COVID-19-Epidemie aus der Sicht der systemischen Immunologie und Epidemiologie der Helmholtz-Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Die Ausführungen sollen die am Mittwoch, den 15. April, anstehenden Entscheidungen zur Beibehaltung, Verstärkung oder Abschwächung von kontaktbeschränkenden Maßnahmen in Deutschland aus einer relevanten fachlichen Perspektive unterstützen. Leitend ist dabei das übergeordnete Ziel, den sukzessiven Ausstieg aus den Kontaktbeschränkungen zu erreichen, ohne die erreichten Zwischenziele zu gefährden und ohne die Kontrolle über das Virus zu verlieren.“, schreiben die Helmholtzer und beschreiben drei Szenarien, entscheiden sich dabei für das dritte:
„Auf der Grundlage der datenbasierten und modellgestützten Analysen lassen sich aus unserer Sicht drei Szenarien aufzeigen, welche ausschließlich Effekte auf die COVID-19 Virusinfektion betrachten und alle weiteren Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen außer Acht lassen:
Szenario 1: Die Kontaktbeschränkungen werden so gelockert, dass Rt wieder auf Werte über 1 ansteigt. In diesem Fall wird die Infektionsaktivität unweigerlich wieder an Fahrt aufnehmen und innerhalb weniger Monate das Gesundheitssystem massiv überlasten. Die Zahl der derzeit freien verfügbaren Intensivbetten (ICU) liegt im Bereich von 10,000 (https://www.intensivregister.de/#/intensivregister)). In diesem Szenario wird die Zahl der zur Versorgung notwendigen ICUs um ein Vielfaches höher sein. Die Modelle unterscheiden sich in der Zahl der erforderlichen ICUs, stimmen aber in der Vorhersage einer massiven Überlastung überein. Auch ist in allen Modellen der gleiche Trend zu finden: Je weiter die geltenden Beschränkungen gelockert werden, ohne flankierende andere Maßnahmen zu treffen, desto früher findet die Peakbelastung des Gesundheitssystems statt und desto höher wird der Peak sein.
Szenario 2: Kontaktbeschränkungen und andere flankierende Maßnahmen werden so gewählt, dass Rt im Bereich von 1 bleibt. Diese Strategie würde einer unmittelbar einsetzenden, vorsichtigen und kontrollierten Lockerung der Beschränkungen und der Einführung geeigneter flankierender Maßnahmen entsprechen, bei der die Wirkung der Maßnahmen durch eine kontinuierliche Beobachtung der Entwicklung epidemiologischer Kenngrößen verfolgt wird, um durch eine Anpassung der Maßnahmen ein möglichst gutes Tracking des Rt-Zielwertes von 1 zu erreichen. Mit dieser Feedback-basierten Strategie sollte das Gesundheitssystem stabil bleiben und die Patienten versorgen können. Allerdings ist auch diese Aussage mit Vorsicht zu betrachten, da die Abschätzung der dann anfallenden Patientenzahlen und damit der erreichte Rt-Wert durch einige der oben angeführten Modell-Unsicherheiten bestimmt ist. Außerdem können die Empfindlichkeit des Systems und die Zeitverzögerung, mit der sich die Änderung der Maßnahmen auf beobachtbare Fallzahlen auswirkt, zu
einer Übersteuerung führen. Dennoch ist zu erwarten, dass bei einer geeigneten Ausgestaltung des Feedback-Prinzips trotz der Modellunsicherheiten ein ausreichend gutes Tracking des gewünschten Rt-Wertes möglich ist. Der Hauptnachteil dieses Szenarios ist, dass sich die Kontaktbeschränkungen, die notwendig sind, um Rt im Bereich von 1 zu halten, und die starke Auslastung des Gesundheitssystems über Jahre hinziehen dürften. Eine vollständige Immunisierung der Bevölkerung wird bei diesem Ansatz gemäß der Vorhersagen verschiedener Modelle zu lange dauern und zu einer hohen Zahl an Todesopfern führen. (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.03.26.20044214v1.full.pdf; https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.04.20053637v1). Diese Aussage gilt selbst unter der Voraussetzung einer hohen Dunkelziffer (https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.08.20056630v1) und der bisher nicht nachgewiesenen Annahme eines lang anhaltenden Immunschutzes der Infizierten.
Szenario 3: Die Kontaktbeschränkungen werden zunächst weitergeführt und durch flankierende Maßnahmen begleitet, so dass Rt dauerhaft und deutlich unter den Wert von 1 sinkt. Dies würde einer Beibehaltung der Kontaktbeschränkungen entsprechen, die durch weitere Maßnahmen flankiert werden sollten. In diesem Fall kann man gemäß den Abschätzungen mit verschiedenen Modellen davon ausgehen, dass die Ausbreitung des Virus in der Gesellschaft signifikant reduziert würde. Die Modelle unterscheiden sich in der Abschätzung der Zeit, die man benötigt, um die Zahl der Neuinfektionen wirksam auf einen ausreichend niedrigen Zielwert zu reduzieren. Optimistische Abschätzungen liegen im Bereich von einigen Wochen. Hier gilt, je strikter die Maßnahmen, desto schneller wird der Zielwert erreicht. Nach Erreichen des Zielwerts könnte man die Maßnahmen schrittweise aufheben. Aber auch dann muss mit geeigneten Maßnahmen eine erneute Ausbreitung verhindert werden. Dazu ist eine deutlich ausgeweitete Test-Strategie unerlässlich, um neue Fälle lokal aufgelöst früh entdecken und gegebenenfalls wirksam gegensteuern zu können. Die etablierten und eingeübten Tracing-Systeme müssen bei neu auftretenden Fällen eine konsequente Isolationsstrategie verfolgen, um ein erneutes Aufflammen der Epidemie zu verhindern. Parallel sollte die Bevölkerung konsequent auf den Nachweis von Antikörpern gegen das Virus getestet werden, um die Durchseuchungsrate zu erfassen und diejenigen zu identifizieren, bei denen zunächst kein Infektionsrisiko mehr besteht.
In einer abschließenden Bewertung dieser Szenarien ist es offensichtlich, dass Szenario 3 aus epidemiologischer Sicht wünschenswert wäre.“
Die volle Stellungnahme kann hier nachgelesen werden: https://t.co/yBGilvtggg?amp=1
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Fractus, gelesen habe ich es schon (R sinkt unter 1), als Überschrift am 06.04. beim SWR – aber leider stimmen Überschrift und Textinhalt mal wieder nicht überein: https://www.swr3.de/aktuell/nachrichten/Coronavirus-in-Deutschland-RKI-empfiehlt-das-Tragen-von-Schutzmasken/-/id=47428/did=5593786/u4snon/index.html?fbclid=IwAR0F7lG46yeXo3O24zPH-GLTCPtpIZnw0pLd_sqWrZAKOOao20GhxKLSnXI
So schön die Vorstellungen von Helmholtz auch klingen mögen, ich habe bis jetzt nicht gelesen , dass die aktuellen Maßnahmen zu einem R deutlich kleiner 1 geführt hätten. Das RKI hat den aktuellen Wert für R auf etwa 1 bestimmt, eher geringfügig darunter. Wir sind also mitten im Szenario 2.
Hier ein Link, der sich mit den Leobolden der Lepoldina beschäftigt – keine Satire:
https://www.der-postillon.com/2020/04/leopoldina.html
…und dazu ein Link, wo sogar behauptet wird, Halle/Saale liegt in Sachsen – keine Satire:
https://de.sputniknews.com/deutschland/20200415326902515-leopoldina-gutachten-analyse/
Guter Hinweis, danke, @Gondwana.
Die geänderte Zusammensetzung der Arbeitsgruppe der 3. Leopoldina-Stellungnahme ist auf die Zielstellung ausgerichtet. Zitat: „Mit dieser dritten Ad-hoc-Stellungnahme werden nun die psychologischen, sozialen, rechtlichen, pädagogischen und wirtschaftlichen Aspekte beleuchtet.“ Und: „In zwei Stellungnahmen hat sich die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina bereits mit den gesundheitspolitischen Fragen im Umgang mit der Pandemie beschäftigt. Diese Empfehlungen gelten weiterhin.“
„Thomas Christoph Mettenleiter … ist ein deutscher Biologe und Virologe.“ – Mein erster VerSuch(e) war ein Treffer.
Es gibt bei Frau Merkel immer mal wieder Situationen, in denen naturwissenschaftliche Sachfragen zu unerwarteten politischen Handlungen führen, wie z.B. beim beim Atomausstieg nach Fukushima. Hoffen wir, dass es auch diesmal dabei bleibt und Frau Merkel mehr Weitblick zeigt, als der dünnbrettbohrende hallesche BT-Abgeordnete ihrer Partei.
Arbeitsgruppe (Autoren der 3. Ad-hoc-Stellungnahme) der Leopoldina: In dieser dritten Studie sind Fach-Mediziner und Naturwissenschaftler ziemlich unterrepräsentiert. Möglicherweise geriet die Studie dadurch so merkwürdig.
• Prof. Dr. Dirk Brockmann, Institut für Theoretische Biologie, Humboldt-Universität Berlin • Prof. Dr. Horst Dreier, Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Würzburg • Prof. Dr. Lars Feld, Walter Eucken Institut und Universität Freiburg im Breisgau • Prof. Dr. Klaus Fiedler, Psychologisches Institut, Universität Heidelberg • Prof. Dr. Bärbel Friedrich, ehem. Vizepräsidentin der Leopoldina, Mikrobiologie, Humboldt-Universität Berlin • Prof. Dr. Clemens Fuest, Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München • Prof. Dr. Peter Gumbsch, Karlsruher Institut für Technologie und Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM, Freiburg • Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt a.M. • Prof. Dr. Gerald Haug, Präsident der Leopoldina, Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz • Prof. Dr. Jürgen Kocka, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin • Prof. Dr. Olaf Köller, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik, Kiel • Prof. Dr. Thomas Krieg, Vizepräsident der Leopoldina, Medizinische Fakultät, Universität Köln • Prof. Dr. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité Universitätsmedizin Berlin • Prof. Dr. Thomas Lengauer, Mitglied des Präsidiums der Leopoldina, Max-Planck-Institut für Informatik, Saarbrücken • Prof. Dr. Jürgen Margraf, Fakultät für Psychologie, Ruhr-Universität Bochum • Prof. Dr. Christoph Markschies, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität Berlin • Prof. Dr. Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender Forschungszentrum Jülich in der Helmholtz-Gemeinschaft • Prof. Dr. Karl Ulrich Mayer, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin • Prof. Dr. Reinhard Merkel, Seminar für Rechtsphilosophie, Universität Hamburg • Prof. Dr. Thomas Mettenleiter, Präsident des Friedrich-Loeffler-Instituts, Greifswald-Insel Riems • Prof. Dr. Armin Nassehi, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München • Prof. Dr. Manfred Prenzel, Zentrum für Lehrer*innenbildung, Universität Wien • Prof. Dr. Jürgen Renn, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin • Prof. Dr. Frank Rösler, Mitglied des Präsidiums der Leopoldina, Institut für Psychologie, Universität Hamburg • Prof. Dr. Robert Schlögl, Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin • Prof. Dr. Claudia Wiesemann, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen
Das scheint mir eine sinnvollere Analyse zu sein. War bei der Empfehlung der Leopoldina ein Virologe dabei?