Erster Brief in Deutschland: Die Steuernummer

12. April 2018 | Bildung und Wissenschaft | Keine Kommentare

Der erste Themenabend zum Jahresthema der Franckeschen Stiftungen „Bewegte Zeiten. Zur Geschichte und Zukunft des Reisens“ fand gestern, am 11. April 2018, vor einem etwa zu einem Drittel gefüllten Freylinghausensaal statt. Das war sehr schade, denn dieser Abend war das informativste und unterhaltsamste, was in letzter Zeit zum Thema „Migration und Flüchtlingen“ in Halle zu hören war. Teilgenommen haben Firas Alshater, Autor und Youtuber aus Berlin, und Prof. Dr. Jochen Oltmer, und Professor für Migrationsgeschichte aus Osnabrück. Moderiert wurde der Abend von Ellen Schweda von MDR Kultur.

Ellen Schweda und Firas Alshater

Flüchtlinge, „Umvolkung“, Flüchtlingskrise. Bei der Hysterie um dieses Thema, durch zahlreiche Talkshows angeheizt, wurde es Zeit, etwas von der hehren Wissenschaft zum Thema zu hören. Frei nach Alshater könnte man sagen: Es besteht die Gefahr, dass mich sogar aus meinen Kühlschrank heraus ein Flüchtling anspringt. Der Vortrag von Jochen Oltmer präsentierte einen lockeren, aber qualifizierten Überblick aus wissenschaftlicher Sicht zur Migration. Wenn sich die Politik für die Forschung von Oltmer nur eine Stunde lang interessieren würde, könnten uns in Zukunft eine Menge unqualifizierter Bemerkungen dazu erspart bleiben.

Wodurch entsteht Migration?

Prof. Dr. Jochen Oltmer

Lt. Oltmer besteht Migration aus folgenden Elementen: 1. Migration, um neue Chancen wahrzunehmen (Bildungsmigration, Arbeitsmigration), 2. Migration durch Gewalt, Krieg und Vertreibung, 3. Katastrophenmigration. Diese Elemente können sich selbstverständlich auch überschneiden. Oltmer machte den Zuhörern bewußt, dass der größte Migrationskontinent einst Europa war. Weltweit sind durch europäische Migration zahlreiche Neo-Europas entstanden wie z.B. Neuseeland, Kanada, die USA. Das Niveau der Migration hat sich nicht verändert und liegt weltweit immer noch bei ca. 0,6 % der Weltbevölkerung. Allerdings ist das Migrationsverhalten selbst ständigen Veränderungen unterworfen. Dauerhafte Niederlassung von Migranten ist lt. dem Forscher nicht der Normalzustand. Viele der Eingewanderten kehren nach einer Zeit wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurück. Das betrifft sogar die starken Einwanderungsländer wie die USA. In Europa ist die Migration rechtlich stark reglementiert, dabei nutzen die Staaten aber ihren Ermessungsspielraum und beschränken Migration oder lassen sie zu. Oltmer gab am Ende seines Vortrages noch einen Überblick über die Migration nach Deutschland seit 1956 (Ungarnaufstand). Adenauer war strikt gegen die Einwanderung von Flüchtlingen aus Ungarn, dank der öffentlichen Meinung wurde Deutschland eines der Hauptaufnahmeländer für die Verfolgten aus diesem Land. Wie kam es zu der Situation von 2015? Auch hier nannte Oltmer mehrere Faktoren, die sich für die hauptsächlich syrischen Flüchtlinge günstig auswirkten: Die geografische Nähe, bereits Landsleute in Deutschland (Netzwerke), der Zusammenbruch der Vorfeldsicherung Europas, das Dublinungleichgewicht und die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung. Professor Oltmer lieferte den fundiertesten Beitrag zum Thema ab, den ich seit 2015 gelesen oder gehört habe. Der wissenschaftliche Blick verschafft uns Versachlichung und die ist dringend notwendig.

Firas Alshater

Ganz anders der Zugang von Firas Alshater: Als Filmemacher (u.a. Youtuber) und Autor „Ich komm auf Deutschland zu“ ist er mittendrin im Migrationsprozess. Er hat die ersten Demonstrationen gegen Assad in Syrien mitgemacht, hat dort gefilmt, saß im Gefängnis und wurde gefoltert. Der kurze persönliche Film dazu, er hat lange gezögert, diesen öffentlich zu machen, enthüllt viel. Er macht sich geradezu nackt. Durch einen Zufall konnte er für die Arbeit an einem Film (Syria Inside) auf Arbeitsvisum nach Deutschland einreisen und beantragte nach Ablauf des Visums Asyl, der eine Rückreise nach Syrien weiter Gefängnis und Folter und vermutlich auch den Tod bedeutet hätte. Er unterwarf sich dem normalen Asylprozess, mit Unterbringung im Heim. Der erste Brief, den er in Deutschland erhielt, war der Empfang einer eigenen Steuernummer. Auch das Filmemachen ließ Alshater nicht: Er begann seine Reihe Zugar auf Youtube, die sofort zu einem großen Erfolg wurde. Er stellte dem Publikum den ersten Beitrag aus dieser Reihe vor. 2016 kam sein Buch „Ich komm auf Deutschland zu : Ein Syrer über seine neue Heimat“ heraus. Mehrere Abschnitte wurden daraus gelesen.

„Ich hab genug Hass gesehen. Mit Lachen und Humor erreicht man viel mehr.“ Firas Alshater

Alshater beim Vorlesen. Horst Seehofer hätte es nicht besser machen können.

Freiheit und Demokratie schätzt Alshater an Deutschland: „Es sollte das Recht für jeden Menschen auf dieser Erde sein“. Deutschland ist für ihn „eine Familie von 80 Millionen Onkels und Tanten.“ Er meint damit die Solidargemeinschaft, für jeder für jeden beispielhaft einsteht. Er sieht sich keinesfalls als „Vorzeigeflüchtling“ und „Ich kann nicht für alle Syrer reden“. Bezüglich Integration hat Alshater eine klare Meinung: „Die Menschen müssen sich zu Hause fühlen, um sich integrieren zu können.“ Deswegen ist die Familienzusammenführung so wichtig. Sie nimmt den Menschen die Verzweiflung.

Frau Schweda forderte das Publikum nach den beiden sehr unterschiedlichen Beiträgen zum Thema Migration auf, Fragen zu stellen. Darunter war ein junger Mann aus Syrien, der seine kurz seine persönliche Geschichte erzählte, und viel von dem bekräftigte, was Alshater vorgetragen hatte. Ein Pädagoge, der im Publikum saß, hat mit jugendlichen Afghanen zu tun, die weder gewillt noch in der Lage sind, deutsch zu lernen und sich anzupassen. Er fragte Alshater um Rat. Dieser hatte kein Patentrezept, wies daraufhin, dass solange Menschen von Abschiebung bedroht und keine Bleibeperspektive haben, die Verzweiflung überwiegt und eine Integration wohl kaum möglich sei.

Mit diesem Themenabend haben die Franckeschen Stiftungen wieder einmal bewiesen, dass der „Bildungskosmos“ kein Museum ist, sondern geeignet sind, aktuelle Themen nicht nur sachlich zu präsentieren, sondern auch unter vielfältigen Blickwinkeln zu diskutieren. Franckes Werk ist auf einen guten Weg in die Zukunft.

PP

WEITERE THEMENABENDE in den Franckeschen Stiftungen

Mittwoch, 30. Mai 2018, 19.30 Uhr

„Faszinierende Fremdheit. Von der touristischen Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen“

Vortrag von Prof. Dr. Alfred Schäfer (Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Im Anschluss: Fahrradkino im Lindenhof

Mittwoch, 6. Juni 2018, 18.00 Uhr

„Le Mensch – Die Ethik der Identitäten“

Lesung mit Alfred Grosser, Moderation: Ellen Schweda (MDR Kultur)

Dienstag, 11. September 2018, 18.00 Uhr

„Die Zukunft der Mobilität im 21. Jahrhundert“

Vortrag von Prof. Dr. Stephan Rammler (Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule der Künste in Braunschweig)

Zugleich Finissage der Jahresausstellung „Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert“

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