Die Überraschung ist das Salz des Reisens

18. März 2018 | Kultur | Keine Kommentare

Im Rahmen des Programms der Francke-Feier vom 16. – 18. März fand um 11 Uhr am 17. März die Eröffnung des Jahresprogramms und der Jahresausstellung im Freylinghausensaal der Franckeschen Stiftungen statt. Für die musikalische Untermalung sorgten wie so oft Schülerinnen und Schüler des Musikzweiges der Latina August Hermann Francke (Rosa Hagendorf, Elisa Fajen, Emmelie Neuweger, Leopold Brunner). Den Festvortrag hielt der Autor und Weltreisende Ilija Trojanow.

Im Auftrag des Herrn

Rosa Hagendorf, Latina A.H.F., führte musikalisch virtuos in die Veranstaltung ein

Es war eine Eröffnung ganz ohne politisches Grußwort. Der Staats- und Kulturminister Rainer Robra versuchte sich mit dem Zug bis Halle durchzuschlagen, aber in Calbe war dann Schluß. Der Winter hat auch die Deutsche Bahn kalt erwischt. Dem Direktor der Franckeschen Stiftungen, Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke blieb nichts anderes übrig, als Robras Absage zu verkündigen, vverbunden mit guten Wünschen natürlich. Stadtpolitiker waren dagegen einige vorhanden. Oberbürgermeister Bernd Wiegand, Hendrik Lange, Beigeordnete Frau Dr. Marquardt, um nur drei davon zu erwähnen.

Hendrik Lange und Thomas Müller-Bahlke

„Durch die Welt im Auftrag des Herrn“ lautet der Titel der neuen Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen. Dabei handelt es sich nicht um die „Blues Brothers“, die ihre Band zusammentrommeln, um im Auftrag des Herrn genug Geld zusammensammeln, um ihr Waisenhaus zu retten, sondern um Pietisten, die im Auftrag eines anderen Waisenhauses, nämlich der Franckeschen Stiftungen, in die Welt zu gehen, um die Ideen dieser christlichen Reformbewegung zu verbreiten. Wie beschwerlich das Reisen noch zu Franckes Zeiten war, erklärte Direktor Müller-Bahlke in seinen Begrüßungsworten: Die Reise nach Jena dauerte 1 1/2 Tage. Verhängnisvoll konnte das Reisen selbst im nahen Umfeld werden. Dennoch reisten die Pietisten. Die Stiftungsgeschichte bot reichlich Stoff für die neue Jahresausstellung mit dem Titel „Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert.“ Exemplarisch dafür war die Reise von August Hermann Francke durch das deutsche Reich in den Jahren 1717/1718, die mehrere Monate dauerte.

Direktor Thomas Müller-Bahlke

Über das Reisen, Festvortrag von Ilija Trojanow

Der Autor und „Weltensammler“ Ilija Trojanow (geb. 1965) hielt in diesem Jahr den Festvortrag. Oft genug wird sich zurückgelehnt, gehofft, dass der Vortrag vorbeigeht und der Weg in die neue Ausstellung (oder zu Sekt und Schnittchen) frei wird. Nicht so heute! Denn Trojanow hielt keinen Vortrag über das Reisen, er lebt das Reisen. Die Masse der Menschen, die heute pendeln, aufzählend, bedauert er in seinen ersten Worten, dass das Reisen seine sinnliche Komponente verloren hat, keine Erfahrung mehr bietet. Dabei möchte er gleich vorweg feststellen, er sei kein antitouristischer Snob. Die Feststellung, dass manche Orte touristisch „abgegriffen“ wären, existiert schon lange. Dies erzählte bereits Lord Byron, Vertreter der britischen Romantik, 1817 über Rom und jammerte, wieviel englischer Pöbel sich dort herum treibe. Berufe man sich auf den Lord, habe man also seit 200 Jahren keinen Grund mehr nach Rom zu fahren. Nein, betont Trojanow, es könne auch ein Glück sein, das ein Ort touristisch erschlossen sein. Tourismus ist auch die Erfüllung von Wünschen. An einem unberührten Strand könne man den Sonnenuntergang genießen, aber es fehlt der Wein und derjenige, der diesen serviert. Wenn es dunkel wird, kann es auch gefährlich werden. Mitunter sei es ehrlicher, sich ins touristische Schicksal zu fügen. Trojanow rät uns, wir sollen den inneren Touristen zulassen, allerdings sei dies nicht mit Reisen zu verwechseln. Tourismus sei nichts anderes als die organisierte Veränderung des Reisens durch die Tourismusindustrie. Doch Trojanow macht uns Hoffnung: Dennoch können wir heute noch reisen, obwohl die weißen Flecken auf den Karten ausradiert sind. Aber dabei müssen wir unsere Bildung vergessen. Unsere Bildung zerstört das Reisen.

Überraschung ist das Salz des Reisens

Ilija Trojanow, Autor, Weltensammler, Kopfreisender

Die Überraschung ist das Salz des Reisens, meint Trojanow. Er erzählt von seiner Wanderung durch Tansania auf den Spuren des britischen Reisenden Richard Burton. Burton wurde auf seinen Reisen überrascht, er selbst, Trojanow, war vorbereitet, aber die Überraschungen waren die Höhepunkte der Reise. Immunisiert gegen alle Überraschungen verliert das Reisen seinen Reiz, überlegte Trojanow. Deswegen sind für ihn auch die Reiseführer Fluch und Segen zugleich. Es wäre eine leichte Sache, auf Reiseführer zu verzichten. Er rät: Fragen Sie doch einfach einen Einheimischen.  Denn die eigenen Entdeckungen prägen sich besser ein. Wirkliche Entdeckungen sind niemals wiederholbar (und auch nicht zu barer Münze zu verwandeln!), ist Trojanow überzeugt. Vor der Zeit der Reiseführer war man auf örtliche Fremdenführer oder Guides angewiesen.

Büchertisch mit Werken des Weltensammlers

Trojanow erwähnt noch einen bemerkenswerten Reisenden: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert begab sich ein Brite auf eine Reise, die fünf Jahre dauern sollte. Er war blind und wagte es dennoch. Trojanow ist überzeugt: „Das Leben ist ein waghalsiges Abenteuer oder es ist belanglos.“ Und wie schaut es heute auf: Unsere Mitmenschen sind waghalsig im Autoverkehr, fahren oft genug auf der Autobahn zu dicht auf. Aber im Urlaub haben dieselben Leute Angst in eine Rikscha zu steigen. Totalüberwachung hätte man gerne zu Hause und mobile Sicherheit verspricht die Touristikindustrie. Trojanow empfiehlt: Wer wirklich reisen möchte, sollte zu Fuß gehen. Er zitiert Rousseau: „Wenn man reisen will, muß man zu Fuß gehen. In ärmeren Ländern ist man dann den Einheimischen gleichgestellt. Uns Beschleunigten fällt aber das Entschleunigen beim Fußwandern schwer. Denn Langeweile ist die Investition, die man für das Reisen aufbringen muß. Oft genug beurteilen wir unseren Urlaub nach betriebswirtschaftlichen Maximen. Das erklärt den Erfolg der Kreuzfahren: 5 Länder, 7 Städte in einer Woche kann auf diese Weise abarbeiten.

Trojanow: Es lebe die Langeweile!

Blick in die Ausstellung: Reiseapotheke

Für Trojanow gilt das Motto beim Reisen: Es lebe die Langeweile! Die Erfahrungen des Wartens gehören dazu, das Beobachten des Alltags in fremden Welten. Es gilt für ihn: Warten ohne Erwartung. Trojanow möchte uns auch Pilgerreisen näher bringen. Diese bringen viele Elemente des traditionellen Reisens mit sich. In den meisten Religionen dient das Reisen als Mittel zur Erleuchtung. „Gott ist der Freund der Reisenden“, zitiert Trojanow einen religiösen Text. Reisen als seltenen Ausstieg sollten wir für uns annehmen, auf Erneuerung hoffen, die Veränderung des Reisenden annehmen. Wenn wir uns beim Reisen selbst verlieren, werden wir ein wenig besser. Wahre Reisende, erzählt Trojanow, verwandeln Fremdes in Heimat. Der argentinische Schriftsteller Cortázar rückt jetzt in den Fokus von Trojanows Vortrag: Eines Frühsommertages fahren Julio Cortázar und seine Ehefrau Carol Dunlop mit ihrem VW-Bus auf die Autobahn Paris – Marseille. Sie verfolgen, beide bereits sterbenskrank, ein letztes gemeinsames Vorhaben: unterwegs alle 63 Rastplätze anzusteuern, auf jedem zweiten zu übernachten. Das ist eine der schönsten Expeditionen der Literaturgeschichte. Wir könnten auch Kopfreisende sein, schlägt Trojanow vor, und uns auf die Jagd nach einem Einhorn begeben. Kopfreisende sind die Doppelgänger der Weltreisenden. Sie erzählen Geschichten über Menschen, die aufbrechen müssen. Trojanow entwickelt aber auch Ansprüche für uns: Wir sollten unseren Urlaub nutzen, um uns als Mensch zu entwickeln. Am Ende holt er noch einen Heiligen aus dem Reisekoffer: Hugo von St. Viktor, in Blankenburg geboren, in Paris wirkend, um uns aufzuzeigen, wie pluralistisch das christliche Abendland in Wahrheit ist: „„Wer sein Heimatland liebt, ist noch ein zarter Anfänger; derjenige, dem jeder Fleck Erde soviel gilt wie der, auf dem er selbst geboren wurde, hat es schon weit gebracht; reif ist aber erst der, dem die ganze Welt zu einem fremden Ort geworden ist.“

mehr zu Ilija Trojanow

Die Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen ist vom 17. März bis 16. September erlebbar. Kleiner Hinweis zur Francke-Feier: Das Familienkonzert am 18. März um 16 Uhr fällt aus.

Blick in die Ausstellung, damit auch Sie neugierig auf das Reisen werden und sei es nur bis in die Franck. Stiftungen:

Print Friendly, PDF & Email

Kommentar schreiben