Schonzeit vorbei
15. Januar 2019 | Rezensionen | 8 KommentareJuna Grossmann wird den Lesern des HalleSpektrums bekannt vorkommen. Sie ist schon seit längerer Zeit unsere charmante Ratgeberin, was Fragen des Judentums betrifft. Sie hat nun ein Buch über den täglichen Antisemitismus, der ihr in den letzten 17 Jahren begegnet ist, mit dem Titel „Schonzeit vorbei“ geschrieben, dass wir gerne vorstellen wollen.
Das Buch:
Es ist nur ein dünnes Bändchen, das vor mir liegt. Es hat gerade 157 Seiten. Ich stolpere über die Unterzeichnungen, die ich beim ersten Lesen vorgenommen habe. Ich lese Abschnitte erneut. Ich schüttele wieder den Kopf. Es kommt mir so vieles unglaublich vor. Dabei sind es fast alles alltägliche Erlebnisse und die Erzählerin, Frau Grossmann, war beim Erleben genauso schockiert wie ich beim Lesen. Oft kommt es mir so vor, dass sie es aufschreiben mußte, um es richtig zu begreifen.
„… Juden nur auf der Durchreise…“
Juna Grossmann ist in der DDR aufgewachsen, sie ist eine echte Berliner Pflanze. Ihre Eltern sind Deutsche, ihre Großeltern waren Deutsche. Juden gab es auf dem heutigen deutschen Boden seit dem römischen Reich. Sie lebten hier, bevor es überhaupt Deutsche gab. Als sie Anfang 20 ist, wurde ihr gesagt, sie solle endlich in ihre Heimat zurückgehen. Fast zur gleichen Zeit wurde sie von einem Rabbiner gefragt, ob sie wirklich zu ihrem jüdischen Glauben bekennen möchte: „Du könntest jetzt in Sicherheit leben, wenn du niemanden sagst, was du bist.“ Eine trügischere Sicherheit, wie sich schon einmal herausgestellt hat.
Frau Grossmann hat sich für ihr Judentum entschieden und dafür braucht sie sich nicht zu rechtfertigen. Als ich das erste Mal in ihrem Blog irgendwiejüdisch herum blätterte, hatte ich das Gefühl, dass eine Jüdin in Deutschland nichts mehr Besonderes ist. Es stellte sich ein Gefühl von Normalität ein. Ich sollte mich täuschen. Seitdem fremdel ich wieder mit Deutschland. Nur das Grundgesetz hält mich aufrecht. Bei Frau Grossmann, so zeigt das Buch, setzte der Prozess schon viel früher ein. Es ist nicht der gewaltsame Angriff, der sie hat umdenken lassen, es sind die vielen, vielen Alltagserlebnisse, die ihr und dem Leser Angst machen. Seitdem sitzt sie auf gepackten Koffern.
Gehen oder bleiben?
Dabei ist es ein sehr persönliches Buch, das Frau Grossmann hier vorlegt: Es handelt von ihrer Kindheit in der DDR, von ihrem Weg zum jüdischen Glauben. Ein erster Einschnitt ist der 11. September 2001. Sie erlebt das erste Mal offenen Antisemitismus, als jemand in der scheinbar geschützten Atmosphäre im Jüdischen Museum Berlin sagt: „Das waren doch die Juden!“ Ein anderer Einschnitt ist der Bundeswahlkampf 2002 des Herrn Jürgen Möllemann und ein antisemitischer Wahlkampfflyer. Sie lebt eine Zeitlang in den USA, wo „das Judentum auch dann nicht abgesprochen wird, wenn man seit Jahren keine Synagoge mehr gesehen hat.“ Nach fünf Jahren kehrt sie nach Berlin zurück. Sie hatte Heimwehr und war trotz der Normalität des jüdischen Lebens in den USA als deutsche Jüdin dennoch eine Exotin.
Es ist ein Buch der vielen kleinen Geschichten. Allerdings sind es wahre Geschichten: Es geht um Leserbriefe, um Beschwerdemails, auch um den Hass im Internet und dort besonders um die sogenannten sozialen Netzwerke. Frau Grossmann erzählt von einer Vermieterin, die nicht an Juden vermietet, um religiöse Symbole im Alltag (auch um den Davidstern, den in meiner Jugend auch viele christliche Jugendliche trugen) und wie es ist, wenn man bei einer Bewerbung angibt, dass man jüdisch ist. Ach ja, und auf welche Schule schickst du deine Kinder, wenn du jüdisch bist? Sie erzählt von Verharmlosung, Ablenkungsstrategien und der deutschen Gedenkkultur. Der Plauderton der Autorin macht den Inhalt nicht erträglicher, im Gegenteil.
Die Schonzeit ist vorbei. Welche Schonzeit?, fragt sich Frau Grossmann. Der Judenhass ist aus Deutschland nie verschwunden. Er hat sich nur eine Zeitlang versteckt. Er ist auch nicht neu eingewandert. Gedenkorte werden zu „Denkmälern der Schande“. Den Juden wird niederträchtig selbst die Schuld für Antisemitismus gegeben. Juna Grossmann sitzt auf gepackten Koffern, ich kann es gut verstehen. Doch weil sie sich damit nicht abfinden kann, hat sie dieses Buch geschrieben, auch um uns alle zu warnen. Denn es liegt an uns, ob wir bald selbst die Koffer packen müssen oder ob wir es schaffen, dass Juna Grossmann ihren Koffer wieder auspacken kann.
Buchvorstellung:
Am 7. Februar um 19 Uhr wird Frau Grossmann ihr Buch in den Franckeschen Stiftungen, Franckeplatz 1 Haus 26 (Englischer Saal) selbst vorstellen. Der Eintritt ist frei, Spende wird erbeten. Das ist eine Veranstaltung des HalleSpektrums in Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen, dem Canstein Bibelzentrum im Mitteldeutschen Bibelwerk und der Katholischen Akademie des Bistums Magdeburg.
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@heiwu
Lerne verstehend lesen: Sie können tun was sie wollen, aber sie müssen es nicht monstranzenhaft immer vor sich hertragen. Das ist die Kux.
Mich kriegt auch keiner an, weil ich Konfusnihilist bin. Ich mache das aber nicht weiter publik, auch wenn ich Mittwochszeitigfrüh in das Gumdag gehe.
@teu ich glaube kaum, dass Frau Grossmann den Begriff leichtfertig gebraucht. Und Du kannst ihr Deine Spitzfindigkeiten gerne am 7. Februar persönlich vortragen. Sie ist da einiges gewohnt.
Anspitzer Riosal
Kann teu nur zustimmen.
@teu
Danke das wenigstens einer versteht das dieser Begriff immer leichtfertig ,ohne Sinn und Verstand rausposaunt wird.
Ich habe mir schon gedacht, dass die Gründe für den gegenwärtigen Antisemitismus verschwiegen werden.
https: //www.bz-berlin.de/deutschland/no-go-areas-fuer-juden-in-deutschland
Geschichtsklitterung par excellence.
Merkwürdiger Kommentar, @Schulze. Juden sind selbst schuld, weil sie sich das Recht herausnehmen, sich zum Judentum zu bekennen?
Warum muß man aus vielen angesprochenen Dingenein politikum machen? Muß man angeben, welcher religion man anhängt? Wohl nicht, man ist konfessionslos. man kann seine Kinder in jeder Schule einschulen lassen, die religionszugehörigkeit ist dabei eher uninteressant, wenn man sie nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt. Machen Budhisten, Konfuzianer, Shintoisten, Methodisten, Adventisten, Neuapostolische etc. etc auch eine Angabe zu ihrem religiösen Lebenswandel, oder CDU, Linke zu ihrer Parteizugehörigkeit? Da kenne ich andere… Schon die Angabe „ja aber wir sind“ muß doch wohl nicht sein, und da sie auf der Straße und beim Einkaufen nicht Ivrit spricht, wird anderes wohl kaum auffallen.
Ich will der Autorin nicht zu nahe treten, verweise deshalb nur auf den Begriff Antisemitismus:
Semiten sind die Juden nicht, sondern nur Anhänger einer Glaubensgemeinschaft.
Semiten sind: Amharen, Tigrinya, Araber, Hyksos, Malteser, Minäer, Sabäer, Amoriter, Ammoniter, Akkader/Babylonier/Assyrer/Aramäer, Hebräer, Kanaaniter, Moabiter, Nabatäer, Phönizier und Samaritaner.