Corona-Chaos an Schulen im Land: AWO richtet Wut-Brief an CDU-Ministerin Feußner

2. Dezember 2021 | Politik | Keine Kommentare

Offener Brief der Arbeiterwohlfahrt Halle-Merseburg:

Sehr geehrte Frau Ministerin Feußner,

seit dem 25.11.2021 ist aufgrund des exorbitanten Anstiegs der Corona-Infektionen insbesondere unter Kindern und Jugendlichen in unserem Land die Präsenzpflicht an Schulen ausgesetzt. Dieser Schritt ist grundsätzlich zu begrüßen. Insbesondere Familien, bei denen ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nach einer Covid-Infektion besteht oder solchen, in denen sich Familien-mitglieder aus gesundheitlichen Gründen nicht gegen Corona impfen lassen können, müssen vor einer Infektion geschützt werden.

Mit unserem Schreiben vom 18.11.2021 an Sie haben wir hervorgehoben, dass Gesundheitsschutz und Bildungsteilhabe nicht gegen einander ausgespielt werden dürfen und Vorschläge formuliert. Nun verkündete das Bildungsministerium in Sachsen-Anhalt, dass für diejenigen Schüler*innen, die aufgrund vorgenannter Risikolage nicht an einer Präsenzbeschulung teilnehmen, kein Anspruch auf Distanzbeschulung durch Lehrkräfte besteht. Seitens Schulleitungen werden Informationen an die Eltern versandt, in denen formuliert wird, dass Schüler*innen, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen, dadurch versäumte Unterrichtsinhalte eigenständig nacharbeiten müssen.
Damit sind wir in unserem Land wieder an dem Punkt angekommen, an dem Gesundheitsschutz und Bildungsteilhabe gegeneinander ausgespielt werden. Schüler*innen, die aufgrund berechtigter Gründe dem Präsenzunterricht nicht beiwohnen, werden durch die aktuelle Regelung von der Bildung durch die Schulen ausgeschlossen.
Auch diese Schüler*innen haben ein Recht auf Bildung, das sich aus der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 28), aus der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte (Art. 26) aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 14) und in Ableitung aus Art. 2 des Grundgesetzes ergibt. Unsere Landesverfassung sieht ebenfalls in Art. 25 Abs. 1 ein Recht auf Bildung für jeden jungen Menschen vor.

Im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18. März dieses Jahrs betonten die Minister*innen unter Punkt 3: „Die Schülerinnen und Schüler stehen im Mittelpunkt aller Maßnahmen der Kultusministerinnen und Kultusminister, und ihr Recht auf Bildung und Unversehrtheit ist handlungsleitend für alle Beschlüsse der Kultusministerkonferenz.“

Sehr geehrte Frau Ministerin Feußner, machen Sie sich bitte diesen Beschluss zu eigen!
Dazu gehört, dass die Schule als Lernort nun endlich ein sicherer Ort für die Schüler*innen wird. Schüler*innen, die aus berechtigten gesundheitlichen Interessen nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können und denjenigen, die sich in häuslicher Quarantäne befinden, muss ein möglichst gleichwertiges Bildungsangebot unterbreitet werden. Auch wenn die Präsenzpflicht entfallen ist, besteht Schulpflicht. Dieser Verpflichtung entspricht im Umkehrschluss das Recht der Schüler*innen auf Unterricht. Unterricht setzt einen strukturierten Vermittlungsprozess durch Lehrende voraus. Dem genügt die Aufforderung nach eigenständigen Nacharbeiten oder das Zusenden von Arbeitsblättern in keinster Weise.


Unsere AWO Jugendverbände sind zur Zeit mit ihren ohnehin knappen Ressourcen allein damit beschäftigt, das Programm „Aufholen nach Corona“ den Jugendlichen zugänglich zu machen. Die nicht flächendeckend vorhandenen Jugendclubs leisten ihr Möglichstes, um einen Teil der Kinder und Jugendlichen als Ausgleich zum Leistungsdruck in der Schule echte Freizeit zu ermöglichen.


Wir dürfen unsere Kinder und Jugendlichen jetzt nicht zu Bildungsverlierern machen!
Um beides, Gesundheitsschutz und Bildungsteilhabe sicherzustellen, müssen nun umgehend die erforderlichen Schritte umgesetzt werden.

Die AWO Verbände in Sachsen-Anhalt fordern deshalb:

* Neben der Aussetzung der Präsenzpflicht für Kinder/Familien mit erhöhten Risiken müssen weitergehende Möglichkeiten der Beschulung in kleineren Kohorten zur

Reduzierung des Infektionsrisikos zeitnah umgesetzt werden.
* Lernangebote der Schulen (Distanzunterricht/ Homeschooling) für Schüler*innen in Quarantäne bzw. für diejenigen, die das Angebot der Aussetzung der Präsenzpflicht angenommen haben. Schüler*innen und Eltern dürfen nicht alleine gelassen werden.

* Konzepte für Distanzunterricht/Homeschooling müssen jetzt umgesetzt werden. Für alle Schulen muss es nach 2 Jahren Pandemie konkrete, einheitliche Unterstützungs-, Umsetzungs- und Fortbildungsvorgaben geben.

* Für Schüler*innen müssen psychosoziale Unterstützungsangebote (Schulsozialarbeiter*innen/Schulpsycholog*innen) verstärkt vorgehalten werden. Kinder und Jugendliche sind von der aktuellen Situation psychisch stark belastet, das zeigt die steigende und kaum zu deckende Nachfrage an psychologischen und psychiatrischen Angeboten. So hat sich laut dem Arztreport der BARMER vom April! 2021 die Zahl der Jugendlichen, die psychotherapeutische Angebote in Anspruch nehmen, innerhalb der letzten 11 Jahre bereits 2019 verdreifacht. Die Corona Pandemie verschärft diese Situation weiterhin extrem, wie bereits im 1. Halbjahr 2020 deutlich wurde. Es braucht gute multiprofessionelle Konzepte an allen Schulen, die die psycho-sozialen Folgen der Pandemie für die Kinder und Jugendlichen dauerhaft abmildern und deren Resilienz stärken. Dafür müssen schnell Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere muss die Schulsozialarbeit langfristig an allen Schulen gesichert werden. Für die hierfür erforderliche Fachkräftegewinnung und -bindung braucht es endlich langfristige Perspektiven.

* Lernrückstände müssen aufholbar sein: dazu braucht es an allen Schulen konkrete Unterstützungsangebote, diese müssen an die Schüler*innen und deren Eltern fortlaufend niedrigschwellig kommuniziert werden.

* Lehrpläne müssen an die aktuelle Lage angepasst werden. Es müssen Prioritäten gesetzt und Zeit für Schließen von Rückständen eingeplant werden.
Ein Unterricht „as usual“ ist aktuell nicht möglich: Zu viele Schüler*innen befinden sich in häuslicher Isolation, Quarantäne oder können aufgrund von Erkältungssymptomatik nicht zur Schule kommen.

* Der Leistungsdruck auf die Schüler*innen im Sinne des schnellen „Notensammelns“ darf gerade jetzt nicht noch erhöht werden. Kinder und Jugendliche brauchen echte Freizeit um diese belastende Zeit zu überstehen.

* Das anrechnungsfreie Wiederholen des Schuljahres muss bis zum Schuljahr 2022/2023 verlängert werden (§ 16a Versetzungsordnung LSA).

* Eltern müssen über bestehende Gremien wie den Landeselternrat bei der Entwicklung von gebotenen Konzepten zur Sicherstellung von Bildungsteilhabe in der Pandemie eingebunden werden.

* Wie ist der Stand zur Ausstattung der Schulen mit CO2- Ampeln und Luftfiltern? Die Ausstattung der Schulen mit CO2- Ampeln und Luftfiltern muss seitens des Landes JETZT verstärkt unterstützt und vorangetrieben werden, es braucht unbürokratische und schnelle Verfahren sowie eine konkrete Abrufunterstützung, wenn schon auf die zentrale Beschaffung seitens des Landes mit dem Argument der Ausschreibungsdauer verzichtet wurde.

Mit freundlichen Grüßen
Hendrik Hahndorf
Vorstandsvorsitzender

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