Landesbeauftragte empört über Jüglers Erfolgsroman „Maifliegenzeit“: sie bestreitet „Säuglingsdiebstahl“ in der DDR

22. März 2024 | Kultur | 5 Kommentare

Zu Matthias Jüglers im März 2023 erschienenen Roman „Maifliegenzeit“, der zur Zeit im Programm des Mitteldeutschen Rundfunks (letzte Lesung heute ab 19:005 in MDR Kultur) auch als Hörbuch gesendet wird, und zu Jüglers Beitrag „Geraubte Neugeborene“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. März 2024 gibt die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt, Birgit Neumann-Becker, folgende Erklärung ab:

„Der plötzliche Tod eines Neugeborenen ist für eine Mutter das wohl schlimmste Erlebnis. Versetzt sie die Geburt in einen physischen und psychischen Ausnah-mezustand, ist die unerwartete Mitteilung vom Tod des Babys ein Schockerlebnis. Dies traumatisiert manche Mütter und Familien ein Leben lang. Einige halten sich an der Hoffnung fest, das Kind habe dennoch überlebt, doch verhindert diese Hoffnung letztlich eine Verarbeitung des Traumas. Angesichts des skrupellosen Umgangs mit Menschenleben in der SED-Diktatur, schien und scheint es insbesondere manchen Betroffenenen aus der DDR nicht unwahrscheinlich, der Säuglingstod sei nur vorgetäuscht und das Kind habe, adoptiert von anderen Eltern, überlebt.

Als 2013 die ARD-Fernsehserie „Weissensee“ einen solchen Fall schilderte, kamen viele Frauen zu den Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Hoffnung auf Klärung der näheren Umstände des Verlustes ihres Babys. Denn fest steht: In vielen Fällen ist in der DDR mit den Frauen sehr unsensibel und intransparent umgegangen worden, berechtigte Fragen blieben unbeantwortet. In einer Diktatur gibt es keine Transparenz. Allein meine Behörde in Sachsen-Anhalt hat seit 2013 in knapp 200 Fällen beraten und die Frauen quellenbasiert und multiprofessionell begleitet. Wir nehmen jeden Einzelfall sehr ernst und untersuchen ihn sehr sorgfältig. In keinem Fall konnte jedoch ein Kindesentzug nachgewiesen werden, meistens ließ sich der Tod des Babys plausibel zeigen.
Diese Aufarbeitung half vielen Betroffenen, mit ihrem tragischen Schicksal Frieden zu schließen. In einer von mir angeregten wissenschaftlichen Studie, die mit einem Zeitzeugenaufruf verbunden war, ist dieser Prozess eingehend untersucht worden (Florian Steger/Maximilian Schochow: Wo ist mein Kind? Familien auf der Suche nach der Wahrheit. Ein Beitrag zur Aufarbeitung. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2020).
Zudem fördere ich das Forschungsprojekt „Die Pädopathologie an der Medizinischen Akademie Magdeburg – zum Umgang mit Fehl- und Frühgeburten und mit dem Säuglingstod 1959-1989/90“, das an der Medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg durchgeführt wird. An dieser Universität wird der gesamte diesbezügliche Aktenbestand gesichert, digitalisiert und ausgewertet. Auch in diesem Projekt deutet die Daten- und Quellenanalyse auf keinen tatsächlichen Kindesentzug hin.

Seit Juli 2022 wird am Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung ein umfangreiches dreijähriges und vom Bundesministerium des Innern und für Heimat gefördertes Forschungs-projekt zu „Zwangsadoptionen in der SBZ/DDR von 1945 bis 1989“ durchgeführt, das die Un-tersuchung dieser Problematik einschließt. Auch hier wird jeder Fall möglicher Zwangsadop-tion nach der Toderklärung eines Kindes gründlich und systematisch geprüft.
2018 ist beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen eine Zentrale Auskunfts- und Vermittlungsstelle zum Thema „Zwangsadoptionen in der DDR – Auskunft und Vermittlung eingerichtet“ worden, an die sich Betroffene wenden können. Als für das Land Sachsen-Anhalt zuständige Beratungsstelle unterstützen wir die betroffenen Frauen und Familien, die Zusammenhänge dokumentarisch zu rekonstruieren und multiprofessionell aufzuarbeiten. Wir begleiten sie dabei auch seelsorgerisch und bieten, wenn nötig, auch psychosoziale Unterstützung an.

Leider hat Matthias Jügler bei den Recherchen zu seinem Roman „Maifliegenzeit“ weder die Landesbeauftragte konsultiert noch offenbar die vorhandene Forschung rezipiert. Denn auch wenn in Einzelfällen nicht völlig ausgeschlossen werden kann, das für tot erklärte Kinder dennoch überlebt haben, für einen von Staat oder der Partei systematisch organisierten Ent-zug von Neugeborenen gibt es bislang keine wissenschaftlich haltbaren Belege und keine Plausibilität.
Ein Roman-Autor hat natürlich jede künstlerische Freiheit, sein Thema auszugestalten. Doch auch ein Schriftsteller trägt eine Verantwortung, zumal, wenn er seinen Roman mit Doku-mentation verbindet. Die Art, wie er in dem FAZ-Artikel und in „Maifliegenzeit“ entgegen den wissenschaftlichen Kenntnissen den Säuglingstod in der DDR verarbeitet, kann bei vielen Betroffenen mühsam verheilte Wunden wieder aufreißen und zu einer Retraumatisierung führen, weil er erneut die Hoffnung weckt, das Kind könne überlebt haben.
Als Landesbeauftragte stehe ich für Beratungsanfragen zur biografischen Aufarbeitung und für fachliche Auskünfte zur Verfügung.“

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