Trauerflor in Halle – sie werden möglicherweise den Winter nicht überleben

2. Oktober 2017 | Bild der Woche | 7 Kommentare

Es ist Sonntag, und Vera genießt den wahrscheinlich letzten warmen Herbsttag in Halle. Sie studiert seit einigen Semestern  Bildhauerei an der Burg, und natürlich war sie auch heute wieder kurz im Atelier. Auf dem Rückweg beschließt sie, noch ihren betagten Großvater in Kröllwitz zu besuchen, und wie immer sucht sie am Wegesrand ein paar Blütenstängel. Mitbringsel. Nur eine kleine Geste soll das sein, und auch nicht jeden Sonntag führt sie der Weg zu dem längst pensionierten Gelehrten, der sich an der MLU einst einen bescheidenen Namen als Naturkundler gemacht hat. Und oft hält ihr Großvater dann einen lang ausschweifenden Vortrag über die verwelkten, oft unansehnlichen Blütenstängeln, die sie auf ihrem Weg über Halles verunkrauteten Bürgersteigen, aber auch auf der Peißnitz, fremden Vorgärten oder von den Frühjahr fliederbestandenen Felsen von Kröllwitz  einsammelt.  Manchmal sind es nur unscheinbare Gräser, und im Winter waren es denn schon einmal Teile von Topfpflanzen, die im Baumarkt zum Verkauf standen. Kurzum: alles Mögliche, Opa hat darauf ja immer etwas zu erzählen.

Da liegt sie, eine abgefallene Blüte auf der Mauer der Burg

Am Graben vor der Burg hat Vera etwas entdeckt, das ihrem Großvater sicher gefallen würde. Zwischen dem Modergeruch, der Anfang Oktober  das langsame Sterben der Natur ankündigte, der von den ersten gefallenen Herbstblättern aus dem Burggraben aufsteigt, weht ein leichter Hauch von Frühling, Erinnerungen an den Beginn des Sommer des Jahres steigen Vera im Bewusststein auf, als sie mit Kommilitonen unter Bäumen saßen und den Frühling zeichneten. Dieser akademische Grundlagenkurs war eigentlich kunstpädagogischer Kinderkram, fand Vera damals, sie ging aber trotzdem hin, was aber eher an Jörg lag… Ja, der Frühling. „Maledetta primavera“,  das Ganze ging natürlich dramatisch zu Ende, natürlich war der Typ viel zu alt, wollte wohl nur nochmal seinen Johannistrieb an seinen Schülerinnen auslassen, ein alter Hecht im Teich voller Backfische. „Was für ein Arschloch“ durchfährt es sie, als sie, den blühenden Zweig in der Hand,  das morsche Vorgartentor des Anwesens aufstößt, das schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Porphyrmauerwerk, 30er Jahre, Heimatstil, ziemlich spießig eigentlich,  aber dieser muffige Geruch, in dem sich Opa eingerichtet hatte, verströmt immer wieder einen melancholischen Charme. Alle anderen Häuser in der Siedlung sind mittlerweile  aufgekauft, renoviert, mit Alarmanlagen versehen – hier wohnt die „Elite“ von Halle – und Opa Bauer  ignoriert sie seit Jahrzehnten mit der gewissen Renitenz, die alten Leuten, die schon verschiedene Systeme haben untergehen gesehen, gemein ist. „Das sind die Motten, auf die wir schon lange gewartet haben, und die alles unterminieren werden, aber wir bleiben standhaft, wie ein Baum“ Das war so ein Spruch, den Opa Bauer schon bald nach der Wende immer wieder sagen sollte.  Zuletzt bei Veras Jugendweihe.  „Trotzdem: zum Glück wählt er nicht AfD“, denkt Vera, hofft das zumindest, denn ganz sicher war sie in den letzten Tagen nicht, drückt die Klingel neben dem handgeschrieben Etikett  „Georg Bauer“.

„Warum bist Du so still“, fragte Vera ihren Großvater, was ist denn mit den Blumen, die ich Dir mitgebracht habe?

Opa Georg sah betrübt aus.

„Sie wird wohl diesen Winter nicht überleben“.

„Oma“?

„Nein, die genießt ihr neues Leben,  da bin ich drüber weg“

Was ist es dann?

„Der letzte Sommer war es einfach. Für viele von denen sind die ständigen Veränderungen zu viel.  Aber dieses Aufbegehren dagegen, das bringt sie um. “

„Opa, du sprichst in Rätseln !“

„Lassen wir die alten Geschichten, Vera. Ich werde nicht mehr neue Triebe bilden, muss halt von dem zehren, was ich in all den Jahren angesammelt habe.  Hat keinen Sinn, etwas Neues anzufangen, neu zu denken, in dieser Zeit. “

Dr. Georg Bauer, seine Freunde nannten ihn einst respektvoll „Agricola“, nahm den blühenden Zweig, den seine ebenso in voller Blüte stehende Enkelin mitgebracht hatte, und steckte sie in  ein Wasserglas, das er leicht humpelnd aus der Küche mitbrachte.  „Weißt Du, es gibt Dinge, die im zielgerichteten Leben zwar sinnlos erscheinen, aber im Alter Freude bereiten, weil niemand mehr nach dem Sinn fragt“.

Aus dem Wohnzimmerschrank wühlt Opa Bauer eine Taschenlampe hervor: „Das mit Amazon war überhaupt  eine gute Idee, Vera, schau mal, 9,95 Euro, Ultraviolett, 395 Nanometer“.

„UV-Was?“

„Nanometer, mach mal das Licht aus.“

Der fade violette Strahl der Taschenlampe schimmert umher, richtet sich auf Veras frisch gewaschene Bluse, die hellblau aufleuchtet, auf Omas seit lange wohl nicht mehr gewaschener Tischdecke kaum, dafür aber erstrahlen die billigen Papierservietten in hellem blauen Lichte. Disko-feaver in sexy Kröllwitz. Opa Bauer richtet die Zauberlampe auf das Wasserglas mit Veras Zweig, aus dem frischen Schnitt des Zweiges fallen grell leuchtende, hellblau-türkis-farbene Kaskaden auf den Boden der improvisierten Vase.

„Was ist das“?

„Darüber sollen sich unsere Leser Gedanken machen, die wissen so viel, uns haben sie doch auch nur ausgedacht“

„OK, mach das Licht wieder an“

Licht an:  Hallespektrum  fragt: was war da los:

1: Welche Pflanze hat da falsch geblüht? (Name, Vorname, Ihr wisst schon)

2. Warum droht ihr möglicherweise deshalb der Untergang ?

3. Es ist ein seltener Vorgang. Zur Zeit sieht man das in Halle aber öfter. Wo ?

4. Was ist das für ein „Wurm“, der da am Ende mithilft?

5. Was hat es mit dem seltsamen blauen Leuchten im Wasserglas auf sich ?

6. Warum leuchtet Veras Bluse im Schein von Opas Zauberlampe?

7. Warum diese Rahmenhandlung?

(HW)

Auflösung der letzten Pflanze der Woche: Laurus nobilis, Lorbeer.

Das Geheimnis um das ewig Weibliche

Ja, User Tanc riet rasch richtig. Der Echte bzw. Edle Lorbeer, Laurus nobilis, ist hier abgebildet. Seine Blätter kennt vermutlich jeder, der zuhause kocht. Ich erinnere mich gut an die intensiv-negativen Erfahrungen mit den zerkleinerten Blatterlebnissen in der Kartoffelsuppe meiner Kindheit. Manch einer erntet diesen Gewürzlorbeer direkt aus seinem Garten, muss dabei jedoch beachten, dass der nicht winterharte Strauch nur dann immergrün bleibt, wenn man ihn vor Frost schützt. (Und dass er nicht den Kirschlorbeer erwischt, also auf den würzigen Duft achten!) Aus den Lorbeer-Früchten, den blauschwarzen Beeren, kann ein ätherisches Öl gewonnen werden. Dieses findet in der Aromatherapie vielfältig Anwendung im äußerlichen Einsatz, oder auch zur Vertreibung von Schadinsekten.

Daphnes Metamorphose

Interessant ist die Namensgebung: Der griechische Name Daphne für den Lorbeerstrauch erinnert an die gleichnamige Nymphe. Der junge Gott Apoll(on) hat sich der Sage oder Ovids Metamorphosen nach, innig in Daphne verliebt, zumal Amor ihn mit seinem goldenen Liebespfeil getroffen hatte. Daphne erwiderte diese Liebe nicht, denn des unholden Amors Pfeil war bei ihr aus Blei, das sollte eine Liebschaft mit dem über Amor spottenden Apoll wirkungsvoll verhindern. Daphne war Apolls Nachstellungen sogar überdrüssig, es folgte eine wilde Flucht, der sie nur mit väterlicher Hilfe entkam: Verwandelt in einen Lorbeerstrauch überdauerte sie die Zeit, bis sich Apoll, bekränzt mit dem – für ihn nun heiligen – Lorbeerkranz auf dem Kopf, voller Liebesgram wieder entfernte. In späterer Zeit wurden dem Apoll ein Tempel und weitere Heiligtümer errichtet, an der berühmten Orakelstätte von Delphi. Auch hier wurden wieder Lorbeerzweige zu Schmuck und Reinigung verwendet, selbst das berühmt sprechende Orakel soll mithilfe des Lorbeers Apolls Worte verkündet haben: In Form einer jungfräulichen Priesterin namens Pythia, wozu geeignete Frauen ernannt wurden. Die dafür ausgewählten, jungen Frauen aus dem Dorf sollen durch das Kauen von Lorbeerblättern in einen Sinnesrausch versetzt worden sein und unartikulierte Laute geäußert haben. Aus diesen leiteten die Priester die zu deutenden Orakelsprüche zur Selbsterkenntnis ab. Andere Aussagen verbinden die Verkündung des Orakels mit Rauschen des heiligen Lorbeerbaumes vor Ort (Daphne?), oder damit, dass der im Rausch sprechenden Priesterin Lorbeerblätter aus dem Mund geragt haben sollen. Jeder, der Lorbeerblätter schon mal gekostet hat, wird aufgrund der nicht vorhandenen Rauschwirkung von Laurus nobilis an dieser These zweifeln. Plausibler klingt dann schon die Idee, dass die Priesterin in ihrer engen Orakelkammer unter Sauerstoffmangel ekstatisch verkündet hatte.

Dichterkranz bis Nobelpreis: Gewürz des Ruhms

Lorbeer, Laurum nobilis

Der immerwährende Lorbeer, stets grünend und nie verblühend, schafft auch als Symbol seinem Träger unvergängliche Ehre – so ist der Siegeszug des Blattes als Insigne für Ruhm und Ehre zu sehen. Der antiken Auszeichnung pythischer (meist nackter) Sportler aber auch Kunstschaffender in Griechenland und siegreicher Männer in Rom (Triumphator, Kaiser, Sportler) vorbildhaft folgend, diente oder dient der Lorbeerkranz auch im neuzeitlichen Leben zur schmückenden oder anregenden Bekränzung, oft golden stilisiert als Siegerkranz.

Eine bedeutende Rolle fiel dem Kraut im Rennaissance-Humanismus mit dem Dichterkranz zu. Mit dieser Zeit (14.-16. Jh) verbunden war nicht nur die Entwicklung des Schwimmsports, sondern v.a. eine Rückbesinnung auf die Antike. Dem in lateinischer Sprache nach Wahrheit strebenden Poeten wurde seinerzeit wieder als höchste Ehre der Lorbeerkranz überreicht – vielleicht sollte der anregende Duft aber einfach nur Geistesblitze wecken. Francesco Petrarca war einer der ersten, er wird oft als der erste moderne Mensch der Neuzeit gesehen. Nach der mittelalterlichen Ablehnung der Welt erkannte eben dieser Petrarca nun wieder die Schönheit der Natur als Möglichkeit zur Selbsterkenntnis. Petrarca litt nach eigenen Worten an einer gefährlichen Krankheit, der Liebe, er ist mit seiner Liebeslyrik in die Geschichte eingegangen. Seine Verse entsprangen seiner Muse, einer verheirateten Frau namens Laura (von laurus, Lorbeer). Es gab nun wieder eine lange Tradition des weiblichen Musenanrufs in der Dichtung, so Boccaccios Fiammetta, Dantes Beatrice, Shakespeares Dark Lady. Goethe rief im Epos die neun Musen der Antike in Erinnerung (wobei zahlreiche reale Musen seine Schaffenskraft anregten), in seinem Faust brach er jedoch auf der Suche nach dem „ewig Weiblichen“ mit der Tradition: Hier war nicht eine Frau gemeint, sondern die spirituelle Liebe. Auch Goethe erhielt den Dichterkranz, er soll sich über die inzwischen inflationär angewachsene Verleihung des Dichterkranzes aber ablehnend geäußert haben.

Neben dem Dichter wurde dem neuzeitlichen Triumphator der Lorbeerkranz wieder wichtig. Napoleon orientierte sich in seiner Selbstkrönung 1804 am antiken Vorbild; nicht aus Größenwahn, sondern als wohl kalkulierten Affront des Papstes. Oder um sich darauf auszuruhen?

Die 1850 errichtete Bronzestatue Bavaria, die derzeit mit erhobener Augenbraue auf das Münchner Oktoberfest blicken mag, ziert ihr Haar mit Lorbeerranken. In der Hand hält sie dagegen, im Zuge der Germanisierung ihres Entwurfes, einen Siegeskranz aus Eichenlaub; dieser Umdeutung des antiken Vorbilds folgten zudem stämmige Schenkel, mit Bärenfell verhüllt.

Das 20. Jahrhundert stilisierte den Lorbeer z.B. auf Verdienstmedaillen (30 Jahre lang in der DDR), als Silbernes Blatt als höchste sportliche Auszeichnung (Deutschland heute), immer noch als Dichtertitel (poet laureate im angelsächsischen Raum), und auch als Föderationsemblem (zukünftig, siehe Wissenschaftsfiktion Star-Trek).

Heute verdienen sich vor allem erfolgreich Studierte Lorbeeren, der Wortstamm versteckt sich im englischen Bachelor bzw. im französischen Baccalauréat (bacalis = beerenreich, laurus = Lorbeer). Der Laureus ist ein Ausgezeichneter, bestenfalls durch den Nobelpreis.

Wenn unsere Leser also zum nächsten Mal ein Lorbeerblatt im Essen entdecken, sollten sie dieses als Hinweis nehmen, dem Koch seine Anerkennung zu bekunden (wobei es auch als erotisches Symbol immer wieder herhalten kann) – wäre das nicht eine schöne Assoziation?

(A.S.)

 

 

 

 

 

 

 

 

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