Händelstadt? Oder Cantorstadt?

2. März 2018 | Kultur | Ein Kommentar

Cantorstadt statt Händelstadt? So der Vorschlag, der am Donnerstagabend formuliert wurde: Der MDR hatte zu einer Film-Preview mit anschließender Diskussionsrunde an die Leopoldina eingeladen.
Würde man die Händelstatue am Markt mit rationalem Auge betrachten, müsste man ihr eine Statue an die Seite stellen, die sie mindestens um einen Zentimeter überragt: Die Figur Cantors. Denn dieser Georg Cantor ist bedeutender für die Mathematik, als es Georg Friedrich Händel jemals für die Musik war. Aber die Stadt Halle, in der der Mathematiker Professor Georg Cantor (1845-1918) mehr als 40 Jahre gewirkt hat, behandelte ihn immer wieder schlecht. Vor hundert Jahren ist er als einer der Großen der Stadt gestorben. MDR Wissen und Lexi TV haben sich mit einem Film des Themas Unendlichkeit angenommen, um dabei aus dem Leben des Mathematikers zu berichten. Der Dokumentationsfilm läuft über 44 Minuten und wird am kommenden Sonntag um 22.20 Uhr im MDR ausgestrahlt.

Sind Zahlen abzählbar? Verdeutlicht das die Saale?

Wir listen hier eine Reihe von Argumenten, warum es sich empfiehlt, speziell als Hallenser den Film anzusehen:
Georg Cantor lebte und wirkte die meiste Zeit seines Lebens bis zu seinem Ende in Halle. 1869 kam er hierher, heiratete 1874 die beste Freundin seiner Schwester, war Vater von 6 Kindern.

  • Georg Cantor gilt weltweit als einer der Großen der Mathematik. Seine Mengenlehre, die er zeitgleich mit seiner Hochzeit zu begründen begann, gilt als Grundlage der Mathematik.
  • Georg Cantor war Mitglied der in Halle ansässigen, weltweit ältesten Wissenschaftsgesellschaft Leopoldina (- worum er lange gekämpft haben soll).
  • Der geniale Mathematiker wurde die ersten zwei Jahre an der Universität in Halle angestellt, ohne jedoch ein Gehalt zu erhalten. Das änderte sich erst durch seine deutlichen Einsprüche. Später, als angesehener Professor, hatte er höchste Chancen, an die Universität in Berlin berufen zu werden. Cantor taktierte jedoch voreilig, noch bevor ihn der Ruf ereilte, sodass man ihm in Halle sogar seine zugesagte Gehaltserhöhung kürzte. Hier wurde er wirklich schlecht behandelt! Trotzdem blieb er.
  • Die Ehre einer gut einsehbaren Gedenktafel wurde Cantor in Halle, anders als in seiner Geburtsstadt St. Petersburg, zuteil: In der Händelstraße 13, seinem Wohnhaus, das er damals am Halleschen grünen Stadtrand nach seinen (auch mathematisch-ästhetischen) Vorstellungen errichtet hatte.
  • Der Film enthält eine Reihe alter Filmaufnahmen mit Eindrücken zum Stadtbild von Halle.

Ein Foto, das den Unendlichkeitsbegriff versinnbildlicht? Zumindest zeigt die Leinwand auf dem Bild – genau wie bereits das Foto – den Raum voller Menschen. Dazu eine Kamera, die wiederum genau dieses Bild auf die Leinwand projiziert, auf der man den Raum voller Menschen und eine Leinwand mit…

Was war Georg Cantor für ein Mensch? Er stammte aus einer äußerst reichen Familie, sollte Ingenieur werden, war aber schon als Kind überzeugt davon, sich der Mathematik zu verschreiben. Er formulierte beispielsweise einen Satz zur Bestimmung der Äquivalenz. Den Begriff des „Nichtmessbaren“ hat Cantor aus der Musik abgeleitet und in seine Mathematik eingeführt. Schließlich definierte er mehrere Begriffe der Unendlichkeit, die absolute, immer ergänzungsfähige Unendlichkeit, und die vollkommene, von Gott geschaffene Unendlichkeit. In Letzterem äußert sich eine Denkweise, die der Antike und dem Mittelalter verhaftet ist. Cantors Mathematik ist in den meisten Bereichen jedoch modern und sogar lebenspraktisch. Schon der Grundschüler wird mit der Mengenlehre vertraut. Und wenn wir Platzprobleme haben, sollten wir die Hilbert-Theorie kennenlernen, die Cantors Unendlichkeitsbegriff verblüffend veranschaulicht. Damit ist es möglich, eine unendliche Anzahl von Menschen z.B. in einem Hotel unterzubringen. Wer das noch nicht verstanden hat, kann sich auch mit Cantors Diagonalverfahren an die Lösung des Problems wagen.  (Oder den Film anschauen.)

Viele Menschen mochten seine späteren Theorien nicht, was besonders daran lag, dass er seiner Zeit deutlich voraus war. Er hat im Grunde einen Algorithmus der Natur definiert, doch verstanden wurde er selten. Georg Cantor war – nicht zuletzt deshalb – ein impulsiver, scharfer, auch wüst beschimpfender Zeitgenosse. Es gibt sicherlich einen Zusammenhang mit seiner psychischen Erkrankung, die sich besonders im Alter in manisch-depressiven Phasen manifestierte. So war er in den letzten Jahren zeitweise in der Heil- und Pflegeanstalt am Nietlebener Weinberg untergebracht. Dort wurde er in der sog. Männervilla auch aufgrund anderer „lustiger Verrücktheiten“ mit Musiktherapie behandelt.

Halle als Stadt, die Cantor mit Fach-Konferenzen würdigen sollte

In einer Expertenrunde am Anschluss an die Film-Preview diskutierte der MDR mit der Regisseurin des Films, Ekaterina Eremenko, Prof. Dr. Rebecca Waldecker (Professur für Algebra, MLU Halle) und Prof. Dr. Johannes Hübner (Professur für Theoretische Philosophie, MLU Halle). (Das Video dieses Gesprächs ist online zu sehen auf https://www.mdr.de/mediathek/mdr-plus-videos/video-179416.html.) Das Publikum nahm rege an der Diskussion teil. Es wurden zahlreiche mathematik-theoretische Fragen angerissen, beispielsweise zur Naivität als Ursache für Paradoxie. Ist Mathematik eine konsistente Wissenschaft? Sollen wir unendliche Mengen als real ansehen? Wie steht die materielle Welt für Georg Cantor im Zusammenhang mit der Unendlichkeit? Und wie sah Cantor den Bezug zum Göttlichen? Es fallen Sätze, wie: „Mathematik soll Wahrheiten zu Tage bringen, spricht aber über Dinge, die nicht Wirklichkeit sind.“ Das menschliche Vorstellungsvermögen reiche nicht aus, wir benötigen abstrakte Begriffe. Genau das können wir von Georg Cantor lernen!
Bleibt derjenige, der den Film gesehen hat, nun mit unendlichen Fragestellungen zurück, muss er gar abstrakte Begriffe definieren? Herzliche Einladung, dieses selbst zu überprüfen, am Sonntag um 22:20 Uhr im MDR Fernsehen!

AS

Print Friendly, PDF & Email
Ein Kommentar

Kommentar schreiben