Halles Abgeordnete zum „Brexit“

5. Juli 2016 | Politik | 7 Kommentare

Großbritannien wird nach dem Brexit-Referendum wahrscheinlich nicht mehr lange Mitglied der EU sein. Was bedeutet das für Halle und Mitteldeutschland und Europa?  Hallespektrum hat sich in diesen Tagen an alle drei im Bundestag vertretenen halleschen Bundestagsabgeordneten gewandt, und ihnen zum „Brexit“ Fragen gestellt.

Allen, also Frau Dr. Petra Sitte (LINKE), Herrn Dr. Karamba Diaby (SPD) und Herrn Dr. Christoph Bergner (CDU)  möchten wir für die zügigen, ausführlichen und kompetenten Antworten danken. Wir lassen sie nun nacheinander zu Wort kommen.

HalleSpektrum: Wie stehen Sie aktuell zum „Brexit“?

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Petra Sitte

Petra Sitte: Der „Brexit“ ist ein einschneidendes Ereignis für die Europäische Union. Aus Angst, dass andere folgen, gibt es ja Überlegungen, aus diesem Austritt eine möglichst schmerzhafte Angelegenheit zu machen um „Nachahmer“ abzuschrecken. Das ist meiner Meinung nach falsch. Die EU kann nicht über die Drohung zusammengehalten werden, dass eine Austritt schlimmes bedeutet, die EU muss die Menschen erreichen und vor allem ihr Leben verbessern, nur so wird man es schaffen, die Menschen wieder für sie zu begeistern.

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Karamba Diaby

Karamba Diaby: Ich bedaure die Entscheidung der Britinnen und Briten ausdrücklich. Großbritannien schadet sich und Europa mit dieser Entscheidung sehr, denn in einer globalisierten Welt sind wir nur gemeinsam stark. Ich hätte mir eine starke Europäische Union mit Großbritannien gewünscht.

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Christoph Bergner

Christoph Bergner: Bisher war die Lage der EU durch viele Beitrittswünsche und immer neue Beitritte gekennzeichnet. Mit dem Brexit erleben wir zum ersten Mal einen Austritt aus der EU. Das ist eine neue Situation, mit deren Konsequenzen wir uns auseinandersetzen müssen. Das tue ich besonders im Europaausschuss des Bundestages, dessen Mitglied ich bin. In der EU hat niemand eine Vorherrschaft, die unangenehme Entscheidungen einzelner Mitgliedstaaten verhindern könnte. So respektiere ich das Votum der britischen Wähler, auch wenn ich es bedaure. Bedauerlich ist vor allem, dass das Referendum nicht angesetzt wurde, um den besten Weg für Großbritanniens Zukunft zu finden, sondern um innerhalb der konservativen Partei den Streit mit denjenigen zu befrieden, die immer und immer wieder den Austritt forderten. Cameron hat aus einer ungelösten innerparteilichen Frage ein Problem für das gesamte Land gemacht.

HS: Hat Sie die Entscheidung überrascht?

Petra Sitte: Ich war davon genauso überrascht wie wohl ein Großteil der Briten und der europäischen Eliten selber. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, haben ja auch einige die für Leave gestimmt haben, nicht ernsthaft damit gerechnet, dass das wirklich passiert.

Karamba Diaby: Letztendlich hat mich die Entscheidung überrascht. Spätestens nach dem Attentat auf die Abgeordnete der Labour-Partei, Jo Cox, hatte ich das Gefühl, dass sichdie Stimmung in Richtung Verbleib in der Europäischen Union dreht; dass die Vernunft siegt. Dem war leider nicht so. Ich glaube sogar, dass die wenigsten Briten selbst damit gerechnet haben.

Christoph Bergner: Mich hat das Ergebnis überrascht. Ich glaube, dass für Großbritannien die Mitgliedschaft in der EU objektiv besser ist und hoffte deshalb, dass sich die Teilnehmer des Referendums um des eigenen Vorteils willen für einen Verbleib in der EU entscheiden würden.

HS: Würden Sie ein zweites Referendum in Großbritannien begrüßen?

Petra Sitte: Ich halte es für schwierig eine demokratisch getroffenen Entscheidung immer wieder durchführen zu lassen, weil man feststellt, dass einem das Ergebnis nicht passt. Ein solches Vorgehen würde viel Vertrauen in die Demokratie zerstören und wahrscheinlich zu noch mehr Unmut in Großbritannien führen.

Karamba Diaby: Nein. Das britische Volk hat entschieden und jetzt sollten wir alle die Konsequenzen tragen und umsetzen. Ich hielte auch nichts davon, wenn sich das britische Parlament über diesesVotum hinwegsetzen würde – auch wenn das rein rechtlich möglich ist, da das Votum nicht bindend ist. Wenn wir jetzt so lange abstimmen, bis uns das Ergebnis „passt“, schadet das nur der Demokratie und der Glaubwürdigkeit der Politik. All denjenigen, die jetzt sagen, „Wäre ich nur wählen gegangen.“ oder „Hätte ich mich mal anders entschieden. Ich wollte der sogenannten ‚etablierten‘ Politik nur einen Denkzettel verpassen.“ kann man nur sagen: Das britische Referendum hat gezeigt, welche Konsequenzen es haben kann, nicht wählen zu gehen oder jeder populistischen Ente aufzusitzen, die irgendjemand in die Welt posaunt.

Christoph Bergner: Der Ausgang des Referendums hat in Großbritannien große Orientierungslosigkeit hinterlassen. So fordern einige Briten bereits die baldige Wiederholung des Referendums. Das wäre ein problematisches Spiel, auch wenn die Stimmung im Lande tatsächlich umschlägt. Wir sehen an diesem Beispiel zwar wie fragwürdig direkte Demokratie sein kann. Aber die Fragwürdigkeit solcher Plebiszite wird noch größer, wenn man das Volk so oft abstimmen lässt, bis einem das Ergebnis passt.

HS: Sollen die Briten gedrängt werden, den Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrages möglichst schnell einzureichen oder sollte man ihnen Zeit geben?

Petra Sitte: Die Frage ist kompliziert. Natürlich kann man jetzt nicht einfach so weitermachen wie bisher und irgendwann erklären die Briten ihren Austritt, wenn es ihnen passt. Wir brauchen bald klare Verhältnisse. Aber in einer sehr emotionalisierten Situation Zwang auszuüben wird unsere Probleme nicht lösen

Karamba Diaby: Ich hoffe, dass die Briten von sich aus die Umsetzung des Votums zügig in die Wege leiten. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Unsicherheit und Ungewissheit schaden beiden Seiten. Sie sind Gift für die Wirtschaft und bedrohen damit auch die Existenzen vieler Menschen in Europa. Deshalb sollten wir, so schmerzhaft es ist, mit kühlem Kopf die Trennung zeitnah vollziehen.

Christoph Bergner: Die britische Regierung und das Parlament müssen nun einen Antrag auf Austritt stellen, wenn sie dem Mehrheitsvotum ihres Volkes folgen wollen. Momentan sieht es aber so aus, als könne das längere Zeit dauern. Im Wahlkampf haben die Brexit-Befürworter gesagt, je schneller aus der EU desto besser. Jetzt ist davon keine Rede mehr. Wir brauchen aber möglichst bald Entscheidungen, damit die Modalitäten der Loslösung von der EU sachgerecht geklärt werden können.

HS: Welche Auswirkungen hat der Brexit aus Ihrer Sicht auf die Wirtschaft und das Leben in Sachsen-Anhalt und in Halle?

Petra Sitte: Nun, das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Allein der Auflösungsprozess wird ja mindestens zwei Jahre dauern und dann bleibt die Frage, welche Verträge die EU neu mit Großbritannien aushandelt, z.B. im Bereich Freizügigkeit und Freihandel. Es wäre bedauerlich, wenn man nicht mehr so einfach wie jetzt auf Händels Spuren nach London fliegen könnte.

Karamba Diaby: Die vollen Konsequenzen sind derzeit nicht absehbar. Letztendlich hängen sie vor allem auch von den Ergebnissen der Austrittsverhandlungen ab. Die Verhandlungen werden äußerst kompliziert, weil sämtliche Beziehungen zwischen Großbritannien und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union neu geregelt werden müssen. Um für beide Seiten die negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu, halte ich ähnliche Regelungen, wie wir sie z.B. mit Norwegen haben, für zielführend. Ich hoffe aber, dass die Briten gerade auch Halle (Saale) jetzt nicht den Rücken kehren und weiterhin die Händelstadt besuchen. In so schwierigen Zeiten ist es wichtig, das zu betonen, was uns verbindet.

Christoph Bergner: Großbritannien ist ein wichtiger Handelspartner und Exportmarkt für unsere Unternehmen, eine seriöse Abschätzung der langfristig zu erwartenden Entwicklung lehnen momentan jedoch selbst Wirtschaftsfachleute ab. Für regionale Effekte gilt das umso mehr. Ich hoffe, dass wir im Rahmen des Austrittsverfahrens neue Handelsabkommen vereinbaren werden, um die Folgen möglichst abzufedern. Das liegt in beiderseitigem Interesse.

HS: Worin liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen für das Abstimmverhalten der Briten?

Petra Sitte: Der Unmut bei vielen Menschen über die EU ist ja kein neues Phänomen und dass die Briten ja schon immer eine etwas distanziertere Position hatten, ist auch bekannt. Zum aktuellen Abstimmungsergebnis hat aber meiner Meinung nach ganz klar die nationalistische „Leave“-Kampagne einiger Kreise (UKIP) beigetragen. Hier wurde gezielt mit den Ängsten von Menschen vor Einwanderung (z.B. von Polen) gespielt und unrealistische finanzielle Versprechungen gemacht, die zum Teil schon einen Tag nach der Abstimmung wieder zurückgenommen wurden.
Karamba Diaby: Darüber wurde und wird viel geschrieben. Vermutlich ist es ein Mix aus verschiedenen Faktoren: Z. B. der vermeintlichen Entfremdung zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und dem (politischen) System der Europäischen Union andererseits. Persönliche Unzufriedenheit spielt bei so emotionalen Entscheidungen oft eine Rolle. Diese werden von Populisten wie Nigel Farage oder Boris Johnson aufgegriffen und systematisch ausgenutzt (z. B. indem offensichtlich falsche Versprechungen gemacht werden). Von der AfD kennen wir das hierzulande auch. Hinzukommen sicherlich auch politische Großwetterlagen wie kriegerische Konflikte(Syrien, Ukraine) und ihre Auswirkungen (z.B. Flucht und Vertreibung). Der Wunsch, sich nach außen abzuschotten und die Probleme „draußen zu halten“, ist nachvollziehbar – aber in einer globalisierten Welt leider nicht realistisch.

Christoph Bergner: Es gibt immer wieder Anlass, Strukturen und Entscheidungen der EU zu kritisieren. Für das Gebilde Europäische Union gibt es keine historischen Vorbilder. Die Entwicklung der EU kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten bereit sind, Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren. In dieser Hinsicht ist die immer größer werdende EU oft auch schwerfälliger geworden. Da wir in freien Gesellschaften leben, werden solche Probleme kritisiert, manchmal bei der Suche nach Lösungen auch über das Ziel hinaus geschossen. So suchen nicht nur in Großbritannien bestimmte politische Kräfte das Heil in der Rückkehr zum alleinstehenden Nationalstaat. Solche Kräfte haben beim Referendum die Mehrheit gewonnen.

HS: Sind Sie für mehr Europa oder für weniger?

Petra Sitte: Mehr Europa oder mehr EU? Als LINKE wollen wir eine Vertiefung der Europäischen Beziehungen, aber auf einer sozialen, friedlichen Ebene. Wir können Europa nicht nur als neoliberalen Wirtschaftsraum einen und erwarten, dass die Menschen damit zufrieden sind. Auf der anderen Seite gibt es sicherlich viele Bereiche in denen die EU nicht so viel Einfluss auf die einzelnen Länder, ja bis hinunter zu den Kommunen braucht. Politische Entscheidungen sollten immer da getroffen werden, wo sie die Menschen direkt betreffen.

Karamba Diaby: Ich bin für mehr Europa. Der europäische Einigungsprozess ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Garant, dass wir miteinander arbeiten und uns nicht auf dem Schlachtfeld gegenseitig bekämpfen. Kleinstaaterei hilft niemandem. Wenn jeder sein eigenes kleines Süppchen kocht, versinken wir alle in der Bedeutungslosigkeit. Der Einigungsprozess ist unglaublich kompliziert und mit vielen Fallstricken und Unwägbarkeiten verbunden. Und es ist auch illusorisch zu glauben, dass so ein Mammutprojekt von heute auf morgen fertig ist. Aber die Geschichte lehrt uns, dass wir diesen Weg unbedingt weiter gehen sollten.

Christoph Bergner: So wichtig ich den Nationalstaat erachte, es gibt viele Probleme, die in den Dimensionen unserer europäischen Nationalstaaten nicht mehr überzeugend zu lösen sind. So müssen wir die angemessene Balance finden, was in die Zuständigkeit der Nationalstaaten und was auf die Ebene der EU gehört. Das ist eine Aufgabe, die sich immer wieder stellt. In diesem Sinne gibt es Fragen, wo ich mir mehr – und solche wo ich mir weniger EU wünsche. Auch müssen wir stärker darauf achten, dass die Arbeit der EU-Institutionen in der Wahrnehmung der Bürger nicht als Bürokratenherrschaft erscheint.

HS: Wie würden Sie der Bevölkerung Mitteldeutschlands die Vorteile der EU erklären?

Petra Sitte: Zuerst würden mir da 70 Jahre Frieden in Mitteleuropa einfallen (natürlich nicht nur ein Verdienst der EU, aber auch), historisch gesehen einzigartig.

Wir können uns inzwischen frei von Portugal bis in Baltikum bewegen, nicht nur zum Urlaub, sondern auch zum Leben, Lieben, Familien gründen. Viele Menschen kommen zu uns die unser Land bereichern, Ideen über soziale Kämpfe wie in Frankreich mitbringen und damit auch gesellschaftliche Debatten bei uns anstoßen, das finde ich klasse.

Karamba Diaby: Die Europäische Union ist nicht nur ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Sie ist vor allem ein politisches Einigungsprojekt, das uns seit den 1950er Jahren auf der Basis gemeinsamer Werte – den Grund- und Menschenrechten – Frieden und Freiheit garantiert. Darum beneiden uns sehr viele Menschen auf Welt. Und wir dürfen nicht den Fehler machen zu glauben, diese Freiheiten wären selbstverständlich und bestünden für immer und ewig. Wie hart wir jeden Tag darum kämpfen müssen, zeigen uns unsere Nachbarn Polen und Ungarn derzeit leider sehr deutlich. Gemeinsam müssen wir als Mitgliedstaaten der Europäischen Union für Frieden und Freiheit kämpfen. Die Europäischen Union ist im Grunde wie ein starker Arm: Der besteht aus einer Vielzahl an Muskelfasern. Sie alle haben ihre spezifische Funktion. Der Arm ist aber nur stark, wenn alle Muskelfasern mitmachen; wenn sie solidarisch und auf der Basis der Grund- und Menschenrechte zusammenstehen und nicht gegeneinander arbeiten. Ein starker Arm heißt „Vielfalt in der Einheit“. Das ist für mich die Europäische Union.

Als Bildungspolitiker ist für mich ein konkretes Beispiel das Europäische Förderprogramm „Horizont 2020“. Das Förderprogramm zielt darauf ab, EU-weit eine wissens- und innovationsgeschützte Gesellschaft und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen. Der Ausschluss aus dem Förderprogramm,welches insgesamt 70,2 Mrd. Euro umfasst, wäre für die britische Forschungslandschaft ein großer Rückschritt und zeigt deutlich was der EU-Austritt für Folgen hat.

Christoph Bergner: Soweit es in der verlangten Kürze möglich ist: Die EU hat 2012 nicht umsonst den Friedensnobelpreis bekommen, sie ist ein Friedensprojekt. Wir profitieren heute von einer vorher nie dagewesenen Reisefreiheit. Besonders gewichtig sind die wirtschaftlichen Effekte des gemeinsamen Marktes mit einheitlichen Standards und Freizügigkeit für Unternehmen und Dienstleistungen. Wir haben in den neuen Bundesländern nach 1990 sehr viel Förderung durch die EU erhalten damit wir zu Westeuropa aufschließen konnten. Die EU-Mitgliedschaft hat den Investitionsstandort Mitteldeutschland beträchtlich aufgewertet.

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