„Wie die Lemminge?“

12. November 2022 | Bildung und Wissenschaft | Ein Kommentar

Geläufig ist uns der  sogenannte „Lemming-Effekt“. Er beschreibt die irrationale Steigerung der Nachfrage nach irgendwas, was plötzlich „in“ ist. Das machen in unseren social media-Zeiten sogenannte „Influencer“. Mit der Redewendung „wie die Lemminge“ beschreibt man kollektiven, fatalen Unsinn. Aber was hat das mit den possierlichen kleinen, in der Arktis lebenden Nagetieren zu tun?

Berglemminge (Lemmus lemmus) leben in subarktischen und arktischen Regionen Skandinaviens und der russischen Kola-Halbinsel. Sie sind dort die häufigsten Säugetiere. Die kleinen Nager gehören zur Familie der Wühlmäuse. Sie sind Vegetarier. Gräser, Moose, Wurzeln und Beeren gehören zu ihrem Nahrungsspektrum. Davon finden sie erstaunlicherweise sogar im Winter unter der schützenden Schneedecke meist genug, so dass sie ohne Winterschlaf auskommen. Sie halten sich in selbstgegrabenen, gepolsterten  Wohnhöhlen auf und ziehen in ihnen ihren Nachwuchs auf. Unter dem Schnee überstehen die possierlichen Nager in diesem Geflecht von Gängen arktische Kälte, finden Futter und Schutz vor Räubern und pflanzen sich sogar fort. Die Berglemminge sind Überlebenskünstler, sind zäh, wissen sich zu wehren und erfolgreich zu überleben. Das massenhafte Auftreten und Wandern der Lemminge verstörte die Menschen seit jeher. Man glaubte sogar, sie regnen plötzlich vom Himmel. Um sie ranken sich zahlreiche Mythen.

Lemminge leben nur 1 bis 2 Jahre, können sich aber rasant vermehren. Ein Weibchen bringt nach nur 3 Wochen Tragzeit mehrere Junge zur Welt, die nach wenigen Monaten bereits selbst geschlechtsreif sind. Drei und mehr Würfe pro Jahr sind möglich. Die Populationsdichte nimmt drastisch zu. Die schwangeren Lemming-Weibchen sehen nicht besonders attraktiv aus. Ihre breitgewordene Körperform ähnelt einer Schildkröte. 

Die Berglemming-Populationen können alle 2 bis 5 Jahre starken Schwankungen unterliegen. Die sind besonders kräftig ausgeprägt, wenn  sowohl der Nachwuchs als auch dessen Kinder, also die Enkel, noch im selben Jahr geschlechtsreif wird. Das Futter wird dann knapp. Hunger und hohe Populationsdichte stressen die Lemminge. Besonders stressig wird es für sie, wenn im Frühjahr die schützende Schneedecke wegschmilzt und das Gangsystem freiliegt. Felsspalten sind rar. Ein großer Teil der Tiere wandert dann aus  auf der Suche nach neuen Futterressourcen. Nichts kann sie offenbar beim Wandern aufhalten, auch wenn es lebensgefährlich wird. In schwierigem Gelände und an Flussufern gibt es dann auffällige Staus und viele Unfälle. Viele Auswanderer kommen zu Tode. Massenselbstmord begehen die Lemminge aber nicht. Diese Legende beförderte vermutlich ein Fake-Film der Walt Disney-Studios: Für einen Tierfilm wurden gesammelte Lemminge dramatisch von einer Klippe geschubst und ertranken dann scheinbar. In Wirklichkeit sind die kleinen Wühlmäuse, getragen von ihrem luftigen Pelz sogar recht gute Schwimmer.  

Vorzugsweise von Lemmingen ernähren sich Polarfüchse, Hermeline, Schneeeulen und Raubmöwen. In guten Lemmingjahren können sie aufgrund des reichlichen Futterangebotes besonders erfolgreich ihren Nachwuchs aufziehen.  Schrumpfen die Lemmingpopulationen aber dann wieder, nimmt auch die Zahl der Fressfeinde mangels alternativer Beutetiere wieder drastisch ab. Ein typischer Räuber-Beute-Zyklus gewinnt an Einfluss. 

Durch den Klimawandel kommt es seit einigen Jahren schon nicht mehr zu Massenvermehrungen der Lemminge. Feuchter wieder gefrierender Schnee erschwert das Tunnelbauen. Zu schnell verschwindet die winterliche Schneedecke, die vor den Nachstellungen durch Hermeline schützt. Und der längere Sommer verlängert die Jagdsaison für Schneeeulen und Füchse. 

(H.J. Ferenz)

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