Die Zukunft gestalten?

20. Mai 2019 | Umwelt + Verkehr | Keine Kommentare

Die Welt verändert sich und früher war alles besser. Das ist eine typische Aussage mancher älterer Menschen. Veränderung wird schicksalshaft erlebt, sie passiert, sie kommt über einen und man will sie abwehren, verhindern. Die Welt verändert sich, wir wollen und können diese Veränderung mitgestalten! So sollte zumindest die Grundhaltung der Jüngeren oder derjenigen Älteren sein, die noch neu denken können.

Seit Jahrzehnten besteht eine große Herausforderung darin, aus der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas auszusteigen. Diese Aufgabe ist klar, diese Aufgabe ist offiziell und öffentlich von Regierungen mehrfach besiegelt. Aber diese Aufgabe wird zum größten Teil verdrängt, aufgeschoben, ignoriert oder die Schritte dahin werden sogar massiv bekämpft. Das Verhalten unserer Gesellschaft und unserer Regierungen ähnelt in dieser Beziehung einem verkrusteten alten Menschen, der jede Veränderung ablehnt, aufschiebt, bekämpft. Für das Leben, wie er es kennt, hat er Strategien entwickelt, Lösungen parat. Unser Verhalten ähnelt einem Langzeitstudenten, der gar nicht fertig werden will, der keine Lust hat auf einen langweiligen 8-Stunden-Bürojob. Hier mal an einer Vorlesung teilnehmen, dort mal jobben, Freunde und Familie immer wieder anpumpen, Schulden sammeln.

Das Problem an diesem Aufschieben ist, dass es die eigentliche Aufgabe immer schwerer macht, irgendwann sogar unmöglich.

Das große Aufschieben!

Bei der großen Aufgabe, um die es hier geht, verhält es sich ganz genauso. Hätte man vor 20 Jahren angefangen, die CO2-Emissionen wirksam zu reduzieren, wäre eine sehr geringe Veränderung ausreichend gewesen. Stattdessen hat man in fast allen Sektoren auf “bewährte” Konzepte gesetzt, die mehr Verkehr verursachen, mehr Erdöl verbrennen, mehr Plastikmüll erzeugen, kurzlebigere Produkte und höheren Umsatz erzielen. Im Ergebnis haben wir weltweit die höchsten CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre seit Millionen Jahren. Die Hälfte allen weltweit emittierten CO2 wurde übrigens nach der Rio-Konferenz 1992 verursacht, also in 27 Jahren von 150 Jahren industrieller Revolution.

Man sollte annehmen, dass nach so langer Zeit einer klaren und dringenden Aufgabenstellung die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte und wirtschaftlichen Akteure (Industrie, Parteien, Gewerkschaften, Unternehmer) ihre Lösungen und Vorschläge ausgearbeitet hätten. Wie will man die Zukunft gestalten, in der man keine fossilen Brennstoffe mehr verfeuern kann? Wie sieht der Zwischenschritt aus, wo nur noch die Hälfte der heutigen Mengen verbrannt wird? Muss jeder einsam zu Hause sitzen, weil Autofahren in der gewohnten Form und Menge nicht mehr funktioniert? Wie sieht Mobilität ohne Erdöl aus?

Die einzigen Lösungen, die die Konservative in der ganzen Zeit erarbeitet hat, ist das Aufschieben und die Erhaltung der größtmöglichen Emissionen. Erhaltung der Kohle-Arbeitsplätze, mehr Autobahnen und Bundesstraßen, größere und schwerere Autos, Landwirtschaft auf maximale Zerstörung unserer Grundlagen ausgerichtet, Wohnen und Leben möglichst zersiedelt im Eigenheim mit langen Wegen für alles. Genau wie der Langzeitstudent hat man nur ein einziges Ziel: Den status quo möglichst lange aufrecht erhalten, koste es, was es wolle. Jeglicher Wille zur Gestaltung fehlt, jegliche Arbeit an Konzepten. Spätestens seit den Schülerprotesten und den verschiedenen Diskussionen über das Thema wird offensichtlich, dass Spitzenpolitiker in den Führungsriegen des Bundes und der Länder gar nicht über die Fähigkeiten verfügen, um eine Zukunft unter Einhaltung der Dekarbonisierung zu gestalten. Es gibt keine Konzepte zum Verkehr, zur Landwirtschaft, zum Wohnen und zum Transport. Auch 2019 wird von der Bundesregierung massiv investiert in Verkehrswege, die gar keinen Sinn mehr machen ohne Erdölverbrennung.

Verzweiflung und Technologiegläubigkeit

In den Debatten sitzen die Akteure verzweifelt und verstehen die Welt nicht mehr. “Wie soll das denn gehen?” ist der häufige hilflose Offenbarungseid. Sorry Leute: Genau das war Euer Job, Eure Hausaufgabe! Kretschmer sieht in Talkshows aus, als wäre die ganze Welt plötzlich verrückt geworden und irgendwo eine versteckte Kamera, die gleich “Verstehen Sie Spaß?” ruft.

Die FDP dagegen zeigt sich technologiegläubig ohne Realitätsbezug. Technik soll alles so lassen wie bisher, nur ohne Kohle und Öl. Aber zum allerhöchstens gleichen Preis und auch sonst unter den gleichen Bedingungen. Billig fliegen mit Wasserstoff – Ingenieure vor!

Dass die Wasserstofferzeugung viel Energie benötigt, muss Herr Lindner nicht verstehen. Dass aber innerhalb von 7 Jahren die halbe Linien-Flugzeugflotte durch Maschinen mit einem neuen, noch nicht mal fertigen Antriebssystem ersetzt wird und eine Treibstoffherstellung die enormen Mengen Wasserstoff aus erneuerbarer Energie bereitstellt und all das zu den Kosten des heutigen Kerosins, das kann noch nicht mal ein Herr Lindner wirklich glauben. Hoffe ich zumindest. Alle effizienten Lösungen werden abgelehnt – mit voller Breitseite schießt man gegen Zug statt Kurzstreckenflug, gegen Fahrrad statt Auto, auch die Lösung, weniger Fleisch zu essen, wird von Lindner (und vom Komiker-Fossil Dieter Nuhr) lächerlich gemacht.

Auch das ist die Verteidigung der Vergangenheit mit allen Mitteln. Auch da fehlt jeder Wille und jede Bereitschaft, die anstehenden Veränderungen zu gestalten. Es fehlt jede positive Vision der Zukunft, zumindest wenn man die physikalischen Grenzen beachtet. Gegen die Zukunft wird sich verteidigt, sie wird geleugnet oder relativiert (Beer), oder auf die noch zu erfindenden Lösungen gewartet, die mindestens schon einem Perpetuum Mobile gleichkommen müssten .

Der Kaiser ist also nackt. Die Illusion, dass unsere Regierung Lösungen erarbeitet, wenn man ihr nur noch ein paar Jahre mehr gibt, hat sich in Luft aufgelöst. Ein Altmaier kann gar nicht mehr auf Veränderungen reagieren, das sieht man deutlich an seiner Industrie- Zukunftsstrategie: dort kommt der Klimawandel gar nicht vor, genauso wenig wie der Ausstieg aus Kohle und Öl.

Schnelle Konzepte?

Wer hat denn überhaupt tragfähige ausreichend schnelle Konzepte? Keiner. Deshalb sind außerparlamentarische Aktionen im Moment so wichtig. Jede, die es irgendwie einrichten kann, sollte am 24.5. zur Klimademo gehen (12:00 Uhr, Hallmarkt). Außerdem gründet sich gerade eine Gruppe der Extinction Rebellion in Halle. Und die noch Mutigeren kennen die anderen Aktionsformen längst.

Aber auch die EU-Wahlen sind wichtig. Die großen Herausforderungen können wir nur meistern, wenn wir sozial und ökologisch vorgehen, ohne dabei die bestehende Gesellschaft und Wirtschaft außer Kraft zu setzen. Wenn wir anerkennen, dass die Zukunft sich von den 1960er Idealen verabschieden muss (immer größeres Haus, immer größere Autos, immer fernere Urlaube), dass wir nicht immer schneller immer mehr konsumieren und wegwerfen können, dann bleibt (nach den Investitionen und Arbeiten an der Energiewende, Agrarwende und Verkehrswende) als ganz grobe Faustregel: halb so viel arbeiten und halb so viel konsumieren. Langlebige Produkte verkaufen sich seltener als kurzlebige, verbrauchen weniger Ressourcen, müssen repariert werden. Weniger Tiefkühlprodukte erfordern mehr Zeit zum Kochen – im Idealfall gemeinsam mit Freunden oder Familie. Halb so viel Arbeit kann man als Wirtschaftskrise (Rezession, Arbeitslosigkeit, soziale Unruhen, Elend) organisieren oder als Gemeinschaftsaufgabe, als soziales Projekt mit gesellschaftlichem Gewinn.

Die Partei, die die Zukunft ordentlich gestalten kann, gibt es noch nicht. Noch kleben alle zu sehr an der Vergangenheit, an Öl und Kohle, wie ein Kormoran aus der Ölpest. Aber wir brauchen in der EU gerade in dieser Situation starke Parteien, die die Zukunft nicht verhindern und abwehren, sondern gestalten wollen. Die Herausforderungen anerkennen und das beste draus machen. Ohne Ökologische Schwerpunkte führt die Europapolitik in eine ökologische Krise und ohne starke soziale Schwerpunkte in ein gesellschaftliches Desaster.

Keine einzige Partei kann die Physik verdrehen, kann CO2 wegzaubern oder seine Auswirkungen verhindern. Wegschieben hilft nicht mehr, wir müssen die Aufgabe endlich angehen. Am besten natürlich gemeinsam und nicht gegeneinander.

Tabelle, wie lange der Anstieg der CO-Konzentration in der Atmosphäre jeweils gedauert hat, in Jahren:

270 → 280 ppm: ~5000 Jahre
280 → 290: ~100
290 → 300: ~40
300 → 310: ~30
310 → 320: ~23
320 → 330: 12
330 → 340: 8
340 → 350: 6
350 → 360: 7
360 → 370: 6
370 → 380: 5
380 → 390: 5
390 → 400: 5
400 → 410: 4
410 → 415.7: 2

We are in a climate emergency.

Autor: Marco Gergele

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