Behindert in Zeiten von „Corona“: Erfahrungsberichte ergänzen die Ausstellung „Geschichten, die fehlen…“

17. April 2020 | Soziales | Ein Kommentar
Im Zeichen von Corona
Erfahrungsberichte ergänzen die Ausstellung Geschichten, die fehlen…

Menschen mit Beeinträchtigungen sind von den Pandemie-Einschränkungen besonders betroffen. Denn Menschen mit chronischen und schweren Erkrankungen, die lebenswichtige Organe und das Immunsystem ohnehin schwächen, stehen ganz oben auf der Liste der Gefährdeten. Sie sind vielfach auf Unterstützung angewiesen, die in Zeiten von Kontaktverboten jedoch ungemein schwieriger geworden ist. Die Abstandsgebote im öffentlichen Raum stellen beispielsweise Blinde und sehschwache Mitmenschen vor große Probleme. Wer will ihnen über die Straße helfen, ohne sie zu berühren?

All das äußert sich in vielen Reaktionen, die das Stadtmuseum Halle erreichten. In seiner aktuellen Sonderausstellung geht es ja um Menschen, die mit ihren körperlichen oder geistigen oder seelischen Besonderheiten anders sind als die Mehrheit der Gesellschaft.

So werden hier nicht nur Geschichten, die fehlen… erzählt, sondern auch mit gestalterischen Mitteln barrierefrei zugänglich gemacht. Ein kleiner Trost ist immerhin, dass sich die Krankheitserreger nicht digital verbreiten. Deshalb wird das Stadtmuseum Halle die Ausstellung „Geschichten, die fehlen“ nach und nach im Internet zugänglich machen. Das soll sowohl auf www.geschichten-die-fehlen.de als auch auf der Facebookseite des Stadtmuseums passieren. Dort sind dann auch die Erfahrungen und Anregungen nachzulesen, die Protagonisten der Ausstellung aktuell machen.

Auf Assistenten angewiesen

Dort wird beispielsweise die Geschichte von Anett Melzer erzählt, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, trotzdem aber aufs Tanzen nicht verzichten will. Nun ruft sie zur Solidarität auf. „Ich bin aufgrund meiner schweren Lungenerkrankung und chronischen Insuffizienz meiner Atemwege täglich auf eine künstliche Beatmung angewiesen. Ich bin so froh hier 24 Stunden am Tag meine persönlichen Assistenten an meiner Seite zu haben, die mich auch in dieser schweren Zeit tagtäglich unterstützen. Meine Assistenten sind sich hier der großen Verantwortung bewusst, die sie zum einen für sich selber und für mich mittragen.“ Zudem engagiert sich Anett Melzer in dem Verein „Klippel-Feil-Syndrom – Inklusion von Menschen mit Behinderung und Benachteiligung e.V.“. Dessen Aktivitäten beschränkten sich aktuell auf Homeoffice und Videokonferenzen. „Unser Verein lebt von dem Engagement und der Power seiner Mitglieder. Das ist momentan sehr schwer zu händeln. Unsere geplanten und bereits organisierten Veranstaltungen und Projekte für dieses Jahr sind aktuell auf Eis gelegt.“

Geschlossene Fachgeschäfte

Christel Schilling ist stark hörgeschädigt und schreibt noch immer für ihr Leben gern. Glücklicherweise könne sie weiterhin selbst einkaufen. Doch beschwerlich für die 80jährige sei, dass auch die Hörgeräte-Akustiker nicht erreichbar seien. Ihr eigenes Gerät müsste dringend neu eingestellt werden, doch das zuständige Fachgeschäft ist geschlossen. (Das ändert sich in Sachsen-Anhalt ab 20. April 2020)

 

Hoffnung auf den Sommer

Maria Schünemann ist Autistin und arbeitet in einem Seniorenheim. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, kommuniziere sie mit ihren Freunden per Telefon, Computer, Whatsapp usw. „Ich mache die Erfahrung, dass mir diese Ruhe guttut, einige Termine fallen nun weg. Aber ich muss mir neue Strukturen schaffen. Ich finde immer etwas zu tun, zum Beispiel Aufräumen, das Schreiben von Texten oder Basteln mit Filz. Die Schwierigkeiten, die mir aufgrund des Autismus im Alltag begegnen, muss ich aber im Blick behalten. Zum Beispiel meine unbeholfene Motorik beim Anlegen eines Mundschutzes. Aufgrund meiner visuellen Reizfilterschwäche habe ich Schwierigkeiten, die vielen Menschen, Fahrrad- und Autofahrer im Blick zu haben und dementsprechend zu reagieren, vor allem in der Innenstadt und wenn draußen die Sonne scheint. Ich bin aber auch froh, wenn das Leben wieder seinen gewohnten Gang geht, wenn ich mich wieder von Angesicht zu Angesicht mit meinen Freunden treffen, öffentliche Veranstaltungen besuchen und meine geplanten Reisen in Angriff nehmen kann, zum Beispiel im Sommer an die Ostsee, wenn es denn klappt.“

Beratung auch in Krisenzeiten

Von den pandemiebedingten Schließungen sind auch Beratungsstellen wie „Blickpunkt Auge“ betroffen. Allerdings beträfe das nur den direkten Publikumsverkehr, betont Peter Fischer, der in Halle blinden und sehbehinderten Mitmenschen mit Rat und Tat zur Seite steht. Telefonisch und per Internet sei auch diese Beratungsstelle zu den bekannten Öffnungszeiten weiterhin erreichbar. Das sei auch wichtig, denn der Umgang mit den Schutzmaßnahmen sei auch für seine Klientel nicht einfach, weiß Peter Fischer, dessen eigenes Sehvermögen seit seiner Jugend rapide abgenommen habe.

Eine Frage, die immer wieder auftaucht, betrifft den öffentlichen Raum. In Coronazeiten solle man ja möglichst wenig anfassen. Blinde und sehbehinderte Menschen seien aber besonders darauf angewiesen, sich taktil zu orientieren, müssen also viele Sachen berühren. Fischer verweist da auf den Virologen Prof. Jonas Schmidt-Chanasit von der Uni Hamburg, der sich mit dieser besonderen Situation beschäftigt hat. Der aber sieht hier kaum Gefahrenpotenzial, da sich der Virus weniger über Schmierinfektionen verbreite, sondern vor allem über die Atemwege. Blinden und Sehschwachen falle es aber schwerer, die Abstandsregeln einzuhalten. Hier empfehle der Experte, zwar vorsichtig, aber nicht allzu ängstlich zu sein. „Es besteht gerade im offenen Raum, das heißt draußen, keine Gefahr, wenn einer zu nah an einem vorbei geht oder wenige Sekunden neben einem steht. Gefährlich wird es, wenn in geschlossenen Räumen ein Gespräch geführt wird und der Abstand über mehrere Minuten, wir sagen 15 Minuten, nicht ausreichend ist. Aber das merkt man dann ja auch und die wenigen Sekunden, bis man es bemerkt, sind keine Gefahr.“ Ansonsten gelte – wie für alle anderen auch – die wichtigste Regel: Händewaschen, Händewaschen und Händewaschen.

 

In der Ausstellung ist Peter Fischer mit einem Barometer vertreten, dessen Zeiger von blinden Menschen gut ertastbar sind.

 

 

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