Schnauze, Wessi ! : Holger Witzel liest in der Thalia Buchhandlung.

7. November 2012 | Rezensionen | Ein Kommentar

Dienstagabend, 20 Uhr, in der Thalia-Kaufhausbuchhandlung. So voll ist der Büchermarkt, der sich das Kaufhaus etwas unübersichtlich mit einem Klamottenladen teilt, wohl nicht einmal in den panischen Letzte-Geschenke-Tagen vor Heiligabend. Über 170 vorwiegend Menschen mittleren bis höheren Alters, so schätzt die Filialleiterin, drängen sich zwischen Kasse und Bistro auf eng zusammengestellten Plaststühlchen. Man drückt sich heimelig zusammen, mit deutlich erwartungsfroh-zufriedener Miene.

Holger Witzel

Schnauze, Wessi! Holger Witzel liest in der Thalia-Buchhandlung in Halle.

Doch die Polundermenschen und Einkaufstascheaufdemknieklammeromas warten nicht auf ein Volksliedersternchen, sondern den Stern-Kolumnisten Holger Witzel. Der schreibt nämlich seit Jahren schon im Hamburger Magazin „Stern“ geschundenen Ostmenschen aus der Seele. „Schnauze Wessi“ heißt die – nicht unerwartet – erfolgreiche Kolumne. Die kann man nachlesen, vor allem auch Online.

http://www.stern.de/politik/deutschland/schnauze-wessi-nachrichten-aus-einem-besetzten-land-1520575.html

Dort konnten die „User“ sie eine Zeit lang auch kommentieren. Wie solche Kommentare aussehen können, braucht man hier, im Hallespektrum, sicher niemandem zu erläutern. Schade findet Holger Witzel, dass die Redaktion die Kommentarfunktion wegen vieler haßerfüllter Postings geschlossen hat. Die fand er so gut, dass er noch einmal genüßlich vorliest, wie sich wütende anonyme Westler an der Tastatur abreagieren.
Nun gibt es seine Kolumnen auch als papierenes Buch:
http://www.stern.de/politik/deutschland/schnauze-wessi-immer-in-der-falschen-ecke-1793922.html

Mit einem roten Boxhandschuh auf dem Cover, der dem Leser einen Stinkefinger entgegenstreckt. Die doofe Idee sei nicht von ihm, sagt Witzel, sondern – natürlich, habe das der Westverlag so gewollt. Dieser Tenor zieht sich durch alle seine Kolumnen: alles, was er an Bescheuertem und Beklopptem um sich bemerkt, ist „Wessi“. Er schreibt es auf, witzig, pointiert, sarkastisch – und keineswegs liebevoll wie Wladmir Kaminer, sondern deutlich ätzender. Was Witzel nur von erfolgreichen Satirikern wie etwa Wischmeyer unterscheidet, ist, daß er die beobachteten Absurditäten schonungslos in eine Westhülle gießt.
Wie sich typische Wessis im Urlaub im Robinson-Club verhalten, beschreibt er genüßlich. Wie sie sich gierig und rücksichtslos den Teller voll schaufeln, weil es ja nichts kostet.
Witzel arbeitet für ein Westmagazin, und da er befürchtet, dass das hiesige Publikum diese Zeitschrift nicht so kennt, hat er einen gewaltigen Stapel sichtlich abgegriffener Exemplare mitgebracht, „die können sie sich mitnehmen, es sind allerdings auch einige ältere Exemplare dabei“, sagt er. Der Zugriffreflex funktioniert, und schwups, sind die Exemplare vom Tisch verschwunden und haben den Weg in die Plastetaschen des Publikums gefunden. Gewollte Situationskomik? wahrscheinlich.

Was wohl Holger Witzel mit seinen herrlichen „Hasspredigten“ so bezwecken mag? Verkaufen? bestimmt. Die Schlangen am Ende der Veranstaltungen zur Signierstunde bestätigen das. Und provozieren. Das gelingt, und es ist ausgesprochen unterhaltsam, sich so provozieren zu lassen. Seine Texte machen oft einfach nur Spaß, so die stilsichere Beschreibung eines gemischten Elternabends in Leipig: http://www.stern.de/politik/deutschland/schnauze-wessi-showdown-beim-elternabend-1622725.html

Und manchmal bleibt das Lachen in der Kehle stecken. Eine gute Mischung.
Witzel streut mit seinen Antiwessi-Kolummen regelmäßig Sand in das Sonntagsredengeseier, wie sie besonders gern zum 3. Oktober zu hören sind, und die davon handeln, wie gleich wir doch alle sind. Dafür allein kann man ihm schon danken. Witzel ist die Ost-Antwort auf – von mir ebenso geschätzte – Satiriker wie beispielsweise Martin Sonneborn, der am liebsten vom Westen her die Mauer wieder aufbauen möchte. Satire darf alles, auch Haß predigen.

Findet jedenfalls: Hei-Wu.

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