Reisen im 19. Jahrhundert

12. Juli 2019 | Rezensionen | Keine Kommentare

Urlaubszeit … wir düsen mit dem Ferienflieger in die Ferne, schippern mit einem Kreuzfahrtriesen auf den Weltmeeren oder steuern unser Reiseziel mit dem Auto über verstopfte Autobahnen an. In früheren Jahrhunderten war Reisen – ob zu Fuß, zu Pferde oder mit der Kutsche – zeitraubend, mühsam und beschwerlich. Erst im 19. Jahrhundert ergaben sich durch die technischen Verkehrsentwicklungen, vom Dampfschiff über die Eisenbahn bis hin zum Automobil, neue Möglichkeiten des Reisens.

Der SPD-Politiker Rüdiger Fikentscher (bis 2011 Vizepräsident des Landtages von Sachsen-Anhalt) hat bei seinen Nachforschungen zur eigenen Familiengeschichte entdeckt, dass seine Vorfahren über fünf Generationen hinweg recht reiselustig waren. Deren Briefe, Reiseberichte und Tagebuchaufzeichnungen hat er jahrelang in einem Archiv zusammengetragen und dieser schriftliche Nachlass war der Grundstock für die vorliegende mdv-Neuerscheinung. Bereits sein Ur-Ur-Großvater Wolfgang Caspar Fikentscher (1770-1837) hatte als 18-Jähriger in der kleinen Stadt Marktredwitz im Fichtelgebirge die erste chemische Fabrik Deutschlands gegründet. Um seine Produkte in weitem Umkreis zu verkaufen und entsprechende Kontakte zu knüpfen, unternahm er lebenslang Reisen, die ihn bis nach Prag, Wien und Salzburg führten. Bei genauer Betrachtung der Entfernungen und der damaligen Geschwindigkeiten hatte er sicher viele Monate seines Lebens in einer Kutsche verbracht.

Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770-1837), der als Begründer der wissenschaftlichen Pharmazie gilt, war dagegen als Hofrat und Professor unterwegs. Seine umfangreiche Korrespondenz, die von der Deutschen Nationalakademie Leopoldina herausgegeben wurde, verrät seine rege Reisetätigkeit. Der Botaniker Carl von Martius (1794-1868) war ebenfalls als Wissenschaftler auf Reisen, nahm sogar im Auftrag des bayerischen Königs an einer Expedition nach Brasilien teil.

Friedrich Christian Fikentscher (1799-1864), Ur-Großvater des Autors, war besonders reisefreudig, das belegen frühe Reisen ins Riesengebirge und an den Rhein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörte das Rheintal zu den beliebten Reisezielen. Seine Rhein-Reise 1821 hielt F.C. Fikentscher in einem umfangreichen Reisetagebuch fest. Ein seltenes und beinahe zwei Jahrhunderte altes Dokument, aus dem längere Auszüge zitiert werden. Später unternahm er noch Reisen nach Süddeutschland und zur ersten Weltausstellung in London 1851. Bereits 1830 hatte er sich drei Monate im Geburtsland der Industriellen Revolution aufgehalten. In dieser Zeit besuchte er nahezu in zwei Dutzend Städte über vierzig Fabriken und so enthalten seine Briefe ausführliche Berichte über die Fabrikbesichtigungen.

Das 19. Jahrhundert war auch ein kriegerisches Jahrhundert; so berichtete Oberst Friedrich Fikentscher (1846-1905) in Briefen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 mit ganz unterschiedlichen Blickweisen – zwischen „tiefer Verachtung des Kriegsgegners und höchster Bewunderung französischer Lebensart“.

Auch weibliche Mitglieder der Familie Fikentscher waren auf Reisen, so Frida Schubart (1868-1927), die mit ihrem Ehemann, dem Altertumswissenschaftler Wilhelm Schubart (1873-1960), dreimal in Ägypten war. Über die Reise schrieb sie ein heute noch lesenswertes Buch „Von Wüste, Nil und Sonne“, das leider noch keine Neuauflage erfahren hat.

Neben den Reisen seiner Vorfahren beleuchtet Fikentscher immer wieder die grundlegende Bedeutung des Reisens sowie das Reiseklientel – von den bürgerlichen Bildungsreisen über die romantische Wanderlust bis zu den ersten Luxus- und Vergnügungsreisen – z.B. mit dem weltberühmten Orientexpress.

Rüdiger Fikentscher: „Deutschland und anderswo – Reiseerlebnisse im 19. Jahrhundert“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 280 Seiten, 24,00 Euro.

 

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