Sachsen-Anhalt ist mehr als Luther

8. April 2017 | Politik | 5 Kommentare

Katja Pähle hat nicht nur Martin im Kopf

In der Landtagsdebatte am Freitag hat Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) eine Regierungserklärung zum Thema „Sachsen-Anhalt: Große Geschichte, gute Zukunft – wie wir heute die Weichen für morgen stellen“ abgegeben. In der Debatte erklärt die SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Pähle:

Der Ministerpräsident hat die Regierungserklärung unter das Motto „Große Geschichte, gute Zukunft“ gestellt. Tatsächlich: Sachsen-Anhalt hat eine große Geschichte, und ja: Wir sollten mehr über diese Geschichte erzählen, um unser Land bekannter zu machen.

 Aber dann sind viel mehr Geschichten zu erzählen als die von Luther und vom Bauhaus – die hier als einzige Beispiele genannt wurden. So sehr ich mich persönlich auch darüber freue, wie oft im Moment über die Anfänge des evangelischen Glaubens gesprochen wird – Sachsen-Anhalt ist mehr als Luther!

Die große Geschichte Sachsen-Anhalts erzählt auch von den Taten vieler kleiner Leute.

Sachsen-Anhalts Geschichte ist auch die Geschichte der Landarbeiterinnen und Landarbeiter, die das Rückgrat der agrarindustriellen Revolution hier in der Magdeburger Börde bildeten, und genauso die der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Chemieindustrie, die die materielle Grundlage für diesen bis dahin unvergleichlichen Produktivitätsschub lieferten.

Unsere Geschichte erzählt auch davon, wie sich diese Arbeiterinnen und Arbeiter zusammenschlossen, weil sie erkannt hatten, dass die kleinen Leute sich die Chance auf Teilhabe und Gestaltung erkämpfen können, wenn sie sich zusammenschließen: Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat vor wenigen Tagen erst in Halberstadt seine Ursprünge vor 125 gefeiert, als sich dort 1892 die Generalkommission der Gewerkschaften gründete.

Parteitag in Halle an der Saale 1890

Ohne die Stärke der Arbeiterbewegung im heutigen Sachsen-Anhalt – und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die sich diesen Namen übrigens bei ihrem Parteitag in Halle an der Saale 1890 gab, nach Überwindung ihres Verbots – ohne diese Stärke der Arbeiterbewegung hätte es ein Neues Bauen in Magdeburg genauso wenig gegeben wie den Umzug des Bauhauses von Weimar nach Dessau.

Die Geschichte Sachsen-Anhalts erzählt auch davon, wie diese „kleinen Leute“ – teils verführt, teils geknechtet – missbraucht wurden für die Vorbereitung eines brutalen Vernichtungskrieges, der viele von ihnen selbst das Leben kosten sollte. Was das bedeutete, dafür finden wir die Zeugnisse heute an der Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen, in der Gedenkstätte für die Opfer der NS-„Euthanasie“ auf dem Gelände des Fachklinikums Bernburg und an vielen anderen Stellen im Land, wo meist Ehrenamtliche die Erinnerung an diesen Teilen unserer Geschichte wachhalten.

Die große Geschichte Sachsen-Anhalts ist auch die Geschichte der Frauen – und zwar nicht nur die von Katharina von Bora. Es ist ebenso die Geschichte der einflussreichen, reichsunmittelbaren Äbtissinnen von Quedlinburg und die von Minna Bollmann aus Halberstadt, die 1919 nach Erkämpfung des Frauenwahlrechts in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Es war eine gute Idee, im Jahr 2000 mit dem Projekt FrauenOrte an diese Frauen und ihre Wirkungsstätten überall in Sachsen-Anhalt zu erinnern, und ich würde mich freuen, wenn wir spätestens nach Ende des Lutherjahres auch wieder über die ganze Vielfalt unserer Geschichte sprechen würden. Ein reines „Hopping“ von einem Groß-Event zum nächsten – das tut dem geschichtlichen Verständnis nicht gut.

Die große Geschichte Sachsen-Anhalts ist auch die Geschichte der Frauen

Ich habe diesen etwas längeren Blick in die Geschichte deshalb getan, weil ich meine: Auch im Blick auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft steht es politisch Verantwortlichen gut an, die Perspektive der „kleinen Leute“ einzunehmen.

Denn nach der Landtagswahl 2016 haben alle demokratischen Parteien bekundet: Wir wollen Vertrauen zurückgewinnen. Ich bin überzeugt: Das werden wir nicht schaffen, indem wir bloß Rechenschaft ablegen, wie viel Fördermittel wir übers Land ausgeschüttet haben. Sondern wir müssen handfest nachvollziehbar machen, was Politik konkret für die Menschen bewegt.

Zum Beispiel:    Was hat eigentlich der Handwerker von der Wirtschaftsförderung?

Sehr viel – wenn der jetzt eingeschlagene Weg weiter gegangen wird, sich konsequent an den Bedürfnissen kleiner und mittlerer Unternehmen zu orientieren. Meistergründungsprämie, Hilfen bei der Unternehmensnachfolge, erleichterter Zugang zu Fördermitteln – das sind praktische Fortschritte für die kleinen und mittleren Unternehmen, die unsere Wirtschaftsstruktur prägen.

Oder:    Was hat eigentlich der Arbeitnehmer von Spitzenforschung?

Eine Menge – wenn wir es schaffen, dass der Spin-off in der Region wirksam wird und nicht von Großunternehmen aus dem Rhein-Main-Gebiet abgefischt wird; wenn er zu Ausgründungen aus den Universitäten, zu Start-ups und zu Kooperationen mit Unternehmen aus dem Land führt und damit die regionale Wettbewerbsfähigkeit voranbringt und Arbeitsplätze schafft.

Genau diese Chancen will Armin Willingmann mit den Maßnahmen stärken, die im Hochschulrecht jetzt auf den Weg gebracht werden.

Oder: Was hat eigentlich die Oma im Jerichower Land von einem 50-MBit-Internetzugang?

Ganz viel – wenn er ihrem Enkel ermöglicht, nach dem Studium mit seiner Geschäftsidee aufs flache Land zurückzukehren, weil er diese Idee mit einer anständigen Datenleitung auch von Altenklitsche aus realisieren kann.

Oder: Was hat eigentlich die Alleinerziehende von der frühkindlichen Bildung in der Kita?

Eher nichts – wenn nämlich Gebühren durch die Decke schießen oder wenn jemand auf die Idee käme, die Betreuungszeiten so zu verkürzen, dass eine Vollzeittätigkeit nicht mehr abgedeckt würde: Denn dann guckt die – oder der – Alleinerziehende in die Röhre.

Deshalb haben wir die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen in der Kinderbetreuung schon im vergangenen Jahr stark verbessert. Und deshalb arbeitet Petra Grimm-Benne an der Auswertung der Daten aus dem ganzen Land, um mit einem neuen KiFöG frühkindliche Bildung mit hoher Qualität und zu Bedingungen sicherzustellen, die für alle Beteiligten finanziell tragbar sind.

Oder: Was hat eigentlich der Langzeitarbeitslose von Maßnahmen, die ihm nicht helfen, jemals wieder selber am Arbeitsleben teilzuhaben?

Nichts. Wir können und wollen uns aber nicht damit abfinden, dass manche Menschen bislang faktisch von Teilhabe an Arbeit ausgeschlossen sind, weil sie völlig den Anschluss verloren haben oder noch nie Anschluss hatten. Deshalb gibt es jetzt aus Landesmitteln ein Programm, das diesen Leuten eine intensive Betreuung anbietet, um sie schrittweise wieder an den Arbeitsprozess heranzuführen.

Wie der Ministerpräsident gesagt hat: Wir lassen niemanden zurück.

Oder: Was hat eigentlich eine Frau, die im Südharz auf Jobsuche ist, vom Hamsterschutz?

befindet sich das Land auf dem Lutherweg?

Die Frage ist polemisch – ich weiß. Ich will damit aber deutlich machen: Umweltschutz darf nicht als Gegenstand politischer Ränkespiele einer Elite erscheinen. Wir müssen wieder deutlich machen, dass der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen und der Schutz einer gesunden Umwelt allen dient. Und dass wir deshalb politische Entscheidungen darauf ausrichten, den Schutz der Umwelt, die Förderung nachhaltiger Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen unter einen Hut zu bringen. Dass das möglich ist, ist schließlich oft genug bewiesen worden, auch in Sachsen-Anhalt.

Oder: Was hat eigentlich das Flüchtlingskind davon, dass es jetzt in eine deutsche Schule gehen darf?

Auf jeden Fall sehr viel. Denn der Schutz vor Kriegsgefahr; eine Familie, die nach Verfolgung und Flucht endlich Ruhe finden kann; neue Spielkameraden – das sind alles schon Werte an sich.

Aber wir alle – und alle Schulkinder, deutsche wie zugewanderte – wir haben viel mehr davon, wenn diese Kinder schnell integriert werden, durch gute Sprachausbildung und volle Teilhabe an den Bildungsangeboten.

Und kein Kind hat etwas davon, wenn an den Schulen ein Mangel verwaltet wird, der immer größer wird.

Herr Ministerpräsident, Sie haben sehr viel Richtiges gesagt, das meine Fraktion voll unterschreibt. Aber den Satz: „Eine gesicherte Unterrichtversorgung auf hohem Niveau ist auch künftig gewährleistet“ – den vertrete ich gegenüber Eltern, Lehrern und Schülern nicht. Beim gegenwärtigen Sachstand nicht.

Und das ist kein parteipolitischer Dissens, weil Sozialdemokraten – das räumen wir offen ein – Mitverantwortung dafür tragen, welche Schwierigkeiten heute an vielen Schulen bestehen.

Aber wir sind gewillt, Ihre Aussage gemeinsam mit unseren Partnern mit Leben zu erfüllen und ihr eine positive Wendung zu geben. Dann müsste es allerdings heißen: Eine gesicherte Unterrichtsversorgung kann nur dann perspektivisch gewährleistet werden, wenn mindestens die Einstellungsziele des Koalitionsvertrages umgesetzt werden. Davon aber sind wir noch weit entfernt.

Sachsen-Anhalt hat eine große Geschichte. Ob es auch eine große Zukunft hat, wissen wir alle nicht. Wir aber haben Verantwortung. Die Verantwortung, für die Zukunft dieses Landes solide Grundlagen zu legen.

Kenia die richtige Entscheidung!

Deshalb war es die richtige Entscheidung – ich will das noch einmal ausdrücklich bekräftigen –, im vergangenen Jahr diese Koalition gebildet zu haben. Weil alles andere ein politisches Desaster für Sachsen-Anhalt gewesen wäre. Wenn diese Koalition eine ganze Wahlperiode halten soll – und ich bin da ganz optimistisch –, dann gibt es dafür ein einfaches Rezept: den Koalitionsvertrag Stück für Stück abzuarbeiten und umzusetzen.

Sachsen-Anhalt braucht keine Obergrenzendebatten, keine Hamsterkriege, sondern nüchterne Arbeit an der Umsetzung der verabredeten Aufgaben.

Und den Blick auf die kleinen Leute.

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