Mit dem Mut der Verzweiflung

12. Januar 2022 | Politik | 2 Kommentare

(Kommentar) Es fragt sich wer mutiger war, Bundespräsident Steinmeier als er im Mai in noch relativ unsicherer Situation eine Verlängerung seines Wohnrechtes im Schloss Bellevue reklamierte oder der Sozialmediziner Gerhard Trabert, dessen Hut die Linke nun mit großer Geste in den Ring wirft ohne jegliche Aussicht auf Erfolg. Steinmeier im Mai und jetzt Trabert hatten jeder zu seinem Zeitpunkt nicht viel zu verlieren. Zudem war es ein offenes Geheimnis, dass Steinmeier Lust auf Verlängerung hatte. Machtstrategisch war er schon immer gut aufgestellt. Unvergessen, als er nach seiner verlorenen Bundestagswahl demütig reklamierte „Ich trage die volle Verantwortung für die Wahlniederlage und werde deswegen den Fraktionsvorsitz übernehmen“.

Aus einer Pseudogeste der Bescheidenheit heraus sich den letzten fetten Brocken schnappen. Das hat doch was. Steinmeier, dem die Schriftstellerin Eva Menasse Lesefreudigkeit attestiert und in einem Interview feststellte „soviel Kultur“ war noch nie im Präsidialamt, hat mit ausgewogenen Statements eine Zustimmung in der Bevölkerung erzielt. Vergessen ist seine weniger ausgeglichen Politik als Kanzleramtsminister und Mitverantwortung für Hartz 4. Daher hätte es einem Bundespräsidenten mit dieser Vorgeschichte gut zu Gesicht gestanden, das Thema sozialer Ausgleich stärker zu bearbeiten. Kein Wunder, dass diesem ehemaligen Freund neoliberaler Unkultur die FDP durchaus gewogen ist.

Was Steinmeier verpasst hat, holt nun Trabert nach. Zumindest für einen kurzen Moment. „Du hast keine Chance“, aber nutze sie möchte man ihm zurufen. Dieser Tausendsassa des Sozialengagements und der Flüchtlingshilfe (der hoffentlich nicht das undifferenzierte Mantra vieler Linken „wir nehmen alle auf“ nach plappert) nutzt zumindest den Moment der Aufmerksamkeit für ein Thema, das gerne in die Nische verbannt wird und maximal zur Einweihung von Bahnhofsmissionen hervor gekramt wird. Die zunehmende soziale Unwucht unserer Republik. Niedrige Renten in einem entsolidarisiertem Rentensystem und niedrige Löhne in einem eigentlich reichen Land. Auch die letzte Regelsatzerhöhung der Hartz 4 Bezüge war eher symbolisch denn als Kaufkraft wirksam. Ca. 20 000 Erwerbstätige in Halle würden von einem 12 Euro Mindestlohn profitieren. Zudem gibt es noch viele Tarifvereinbarungen von knapp unter 13 Euro. Willkommen im Billiglohnland Deutschland! Das kann man Steinmeier beileibe nicht alles komplett in die Schuhe schieben, aber einen guten Anteil hat sein Wirken unter Schröder schon daran. Was ihm wohl durch den Kopf geht,  wenn er Trabert zuhört, sofern er es tut. Die „Steinmeierbegeisterte“ Eva Menasse meinte im Interview, er wäre ein besonders aufmerksamer Zuhörer. Also, lieber Kollege Trabert, nutzen sie den Moment der Aufmerksamkeit und bläuen Sie dem zukünftigen Bundespräsidenten ihre Themen ordentlich ein. Vielleicht bleibt was hängen. Auch wenn die Linke nicht ganz uneigennützig die Bundespräsidentenwahl zur Reklame für ihr übliches Themenspektrum nutzt: allemal besser für den demokratischen Wettbewerb als überrumpelte Grüne und eine phlegmatische CDU.

(Detlef Wend)

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