„Herder war ein großer Reformator“ – MZ lässt über Genscher diskutieren

21. Februar 2017 | Politik | 6 Kommentare

Kann Halle es sich leisten, eine Genscher-Ehrung in Frage zu stellen?

Die Mitteldeutsche Zeitung hatte am gestrigen Abend eingeladen, um die Ehrung von Hans-Dietrich Genscher in Halle zu diskutieren. Dazu stellten sich Christian Feigl (Stadtrat für die Grünen), Frank Sitta (FDP-Landeschef), Swen Knöchel (ehemaliger Stadtrat für die Linken) sowie Hans-Dieter Heumann (Diplomat und ehemaliger Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik) den Fragen von Moderator Gert Glowinski.

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Von Links nach rechts: Frank Sitta, Christian Feigl, Gerd Glovinski, Hans-Dieter Heumann, Sven Knöchel

Genscher – ehrenvoll oder nicht?

Christian Feigl stand der Diskussion schon im Vorfeld kritisch gegenüber und stellt gleich zu Beginn des Abends klar, dass er die Person Genscher nicht zur Ikone stilisieren möchte, da seine Taten nicht alle ehrenvoll wären. Feigel gibt zu, dass Genscher zu keiner einfachen Zeit Innenminister wurde. Man bedenke nur die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen. Während dieser Zeit hätte Genscher eine Haltung entwickelt, die kompromisslos war. Dies hätte unter anderem zur Einschränkung in der Strafprozessordnung geführt. „Schon in dieser Zeit ist Genscher weit über sein Ziel hinaus geschossen. Dies hat nicht nur dem Glanz gedient.“ Als zweites Beispiel führt Feigl die zu dieser Zeit aufkommenden Diktaturen in Südamerika an. „Dort wurden hauptsächlich wirtschaftliche und kulturelle Belange in den Vordergrund gestellt, wobei den Menschenrechten nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde.“ In diesem Zusammenhang erinnert er an den Fall Elisabeth Käsemann, die 1977 in Argentinien entführt und getötet wurde. Nach Feigls Ansicht hat sich das auswertige Amt nicht genug um ihre Befreiung bemüht. „Dies trägt nicht zum Ruhm eines Außenministers bei.“

Eine ganz andere Sicht auf Genscher stellt Hans-Dieter Heumann dar. Er hat eine Biografie über Genscher verfasst und betont, dass es keinen anderen Außenminister gegeben hat, der so lange im Amt war. Er verweist die Zuständigkeit des Einsatzes bei den Olympischen Spielen an die bayrische Polizei, die nicht die entsprechende Ausrüstung gehabt hätte, um die Geiseln zu befreien. Und die angeblich kompromisslose Haltung von Genscher bei Terroristen versucht er zu entkräften, indem er sagt: „Schmidt hat eine härtere Haltung gehabt und wollte kein Lösegeld zahlen.“ Genscher hätte sich immerhin mit Heinrich Böll getroffen, um die Motivation der Terroristen zu verstehen. Und indem Genscher Nelson Mandela als Freiheitskämpfer angesehen hat, hätte er fast seine Existenz als Außenminister aufs Spiel gesetzt.
Heumann betont, dass zum Beispiel Gorbatschow der Meinung war, Genscher hätte eine größere Rolle für die Wiedervereinigung als Helmut Kohl gespielt. Genscher hätte seit den 60er Jahren ein Konzept verfolgt, um die Wiedervereinigung zu erreichen und war beispielsweise für die 2+4-Verhandlungen zuständig. Er hätte sich für ein multilaterales Handeln eingesetzt, die europäische Einigung sowie die Globalisierung. Und Heumann stellt ganz offen die Frage: Kann Halle es sich leisten, so etwas in Frage zu stellen? Die rund 60 Zuschauer applaudieren.

Frank Sitta möchte mit der Ehrung an Genschers Werte erinnern, was keine parteipolitische Entscheidung sein sollte.

Zu langsam arbeitende Stadträte?

Der Moderator konfrontiert Swen Knöchel mit einem seiner Twitter-Posts, indem er gefordert hatte, die Hochstraße nach Genscher zu benennen und gelb anzustreichen. Knöchel lächelt: „Man sollte eben eine Ehrung mit Ruhe und Bedacht wählen. Drei Artikel in der MZ hintereinander zu veröffentlichen, hat damit nichts zu tun.“ Er ist der Meinung, der hallesche Stadtrat hätte bezüglich Ehrungen immer eine gute Entscheidung getroffen. Es sei ebene eine hallesche Krankheit, dass bei dem Thema Ehrungen der Prozess so lange dauert. Auch Feigl sieht die Berichterstattung der MZ kritisch. „30 redaktionelle Beiträge, 7 Kommentare und 30 bis 40 Leserbriefe zu veröffentlichen, spielt die Bedeutung des Ganzen höher als es sein sollte.“

Jemand aus dem Publikum fragt den Moderator, ob der „Genscherismus“ der MZ nicht eher kontraproduktiv sei. Glowinski meint, Journalisten müssten auch Politiker auf ihre Fehler aufmerksam machen. Die MZ wolle eine würdige Ehrung und die Stadträte darauf hinweisen, dass es schneller gehen könnte. Das Publikum applaudiert und Zwischenrufe werden laut: „Hamburg hat es in sechs Wochen geschafft.“ Der nächste meint: „Selbst Magdeburg ist schneller als Halle.“

Knöchel gibt zu, dass es schon würdevollere Ehrungen gab, aber betont immer wieder, dass es zurzeit noch nicht zu lange dauern würde. Der Stadtrat hat die Vorlage vor anderthalb Monaten bekommen, über die man am Mittwoch entscheiden muss. Er spricht von der „schnellstmöglichen Form“. Für ihn selbst sei das allerdings zu schnell. Er wünscht sich mehr Zeit, um über mögliche Ehrungen nachzudenken.

Genschers Bezug zu Halle

Da in der Diskussion um Genscher’s Ehrung immer wieder der Bezug zu Halle thematisiert wurde, betont Sitta, dass Genscher immer von Halle als seiner Heimat gesprochen hat und oft hier war. Und auch Heumann stimmt zu: „Er hatte ein großes Interesse an Halle und hat die Stadt wirklich geliebt.“ Seine eigene Bibliothek sei sehr groß gewesen, wobei es eine eigene Ecke für Werke über Halle gab. Und er hätte die großen Politiker seiner Zeit, wie Gorbatschow oder Kissinger, nach Halle geholt. Seine Herkunft hätte auch seine Politik erheblich beeinflusst, denn er wollte ein Gesamteuropa inklusive Russland.

Der Drehorgel-Mucky (Joachim Bunk) aus Merseburg sitzt ebenfalls im Publikum und verkündet, er kenne keinen, der so eine Heimatliebe wie Genscher hatte. Es sei eine Schande, dass die Stadträte nun schon fast ein Jahr für ihre Entscheidung bräuchten. Er und auch Frau Genscher würden nur noch die Köpfe schütteln.

Umbenennung des Herder-Gymnasiums?

Sitta spricht sich generell positiv für die Umbenennung einer Schule aus. Knöchels Fraktion würde die Benennung des Bahnhofvorplatzes mittragen. Die Umbenennung des Herder-Gymnasiums sieht er allerdings kritisch. Eine Schule sollte generell möglichst selten umbenannt werden, insbesondere bei dem Namen Herder. Er verweist auf eine Rede von Genscher, die er zur 100-Jahr-Feier des Gymnasiums gehalten hat. Damals hatte sich Genscher gewünscht, die Schule würde den Namen noch weitere 100 Jahre beibehalten.
Ein Mann aus dem Publikum im gelben Pollunder meint: „Die Würde Herders ist unantastbar. Wenn die Schüler des Gymnasiums Genscher näher stehen als Herder, dann hat die Schule versagt. Es wäre nicht im Sinne Genschers, die Schule umzubennen.“

Plötzlich meldet sich eine Schülerin des Herder-Gymnasiums zu Wort und die Diskussion bekommt eine neue Dynamik. Ihr scheint nicht bewusst zu sein, was ihr Vorredner eigentlich meint. Immerhin bestätigt sie, was vom Herren im gelben Pullunder befürchtet wurde: „Hans Dietrich Genscher ist uns näher als Herder. Genscher hat immerhin bis letztes Jahr gelebt. Und Herder, na was weiß ich, wann der gelebt hat.“ Ein Raunen zieht durchs Publikum. Die Schülerin versucht sich zu rechtfertigen: „Ich weiß nun mal nicht, wann er gelebt hat. Wir haben uns in der Schule nicht damit beschäftigt.“ Das Publikum schnappt nach Luft. Aber die Schülerin bekräftigt noch einmal ihr Anliegen, die Schule umzubenennen. Immerhin hätte sie sich mit Genscher auseinandergesetzt und es sei sogar eine Arbeitsgemeinschaft an der Schule entstanden, die sich dafür einsetzt. Eine ihrer beiden Lehrerinnen ergänzt: „Herder mag ja ein großer Reformator gewesen sein, aber…“ Sie wird von Protestrufen der Zuschauer unterbrochen.

Zum Schluss meint ein FDP-Mitglied unter den Zuschauern, dass nach eigenen Angaben sehr emotional bei diesem Thema ist und den Tränen nahe scheint: „Niemand in diesem Raum hat das Format eines solchen Staatsmannes wie Genscher.“

Nun, was bleibt am Ende dieses Abends? Vier Herren, die sich einem Publikum gestellt haben und in vielem uneinig sind. Ein sehr emotionales Publikum, das seinen Unmut gerne durch Zwischenrufe kund tut. Aber zumindest scheint es sich einig zu sein: Die meisten möchten eine ehrenvolle Würdigung Genschers, die sich in Halle widerspiegelt. Und dies hätte am besten schon letztes Jahr geschehen sollen. Und es bleibt der bittere Beigeschmack, dass eine Schülerin der 9. Klasse des Herder-Gymnasiums wissen sollte, wer Herder war.

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