Die Lage in Catalunya und Spanien: Es geht um Meinungsfreiheit

11. September 2018 | Politik | 5 Kommentare

Heute ist der 11. Sept., der Nationalfeiertag von Katalonien. Am 11. September 1714 eroberten die Truppen der Bourbonen, dem Herrschergeschlecht, das auch heute noch in Spanien regiert, Barcelona und beendeten damit die auf die Krone von Aragón fußende Selbstverwaltung des Landes. Denn wir erinnern uns: Spanien war erst durch die Vereinigung der Kronen von León-Kastilien und Aragón entstanden (Katholische Könige) und damit ein im Vergleich zu England, Deutschland und Frankreich junges Königreich. Zur aktuellen Lage in Katalonien und Barcelona führten wir ein Gespräch mit der Journalistin und Autorin Krystyna Schreiber (Barcelona).

Esteladas bei einer Demonstration des Unabhängigkeitslagers in Brüssel

HalleSpektrum: Wir hörten vom Verbot der Estelada, der Flagge bzw. dem Symbol der offiziellen Unabhängigkeitsbewegung. Was ist daran dran?

Die Estelada soll nach Richterbescheid aus bestimmten öffentlichen Bereichen entfernt werden wie zum Beispiel vor den Rathäusern. Gerade in den mehr als 800 Gemeinden in Katalonien, die sich als Gemeinden für die Unabhängigkeit erklärt haben, ist die Estelada ein wichtiges Symbol. Die Verbannung von Symbolen des Gegners, die keinen juristischen aber einen enormen politischen Wert haben, zeugt für viele hier vor Ort von der Schwäche der spanischen Politik, ein politisches Problem als solches anzugehen. Und es zeugt wohl von einer gewissen Angst vor einer Bewegung “von unten”, die viele Politiker (sowohl auf der pro-Spanien als auch der pro-Unabhängigkeitsseite) unterschätzt haben. Zudem muss bedacht werden, dass der Kampf um den öffentlichen Raum in Katalonien vor allem von Parteien wie den rechtsliberalen Ciutadanos angetrieben wird, denen das Zusammenleben in Katalonien nicht besonders wichtig ist, sondern eher die zukünftigen Wahlergebnisse in Restspanien, wo sie inzwischen als härtere Alternative gegen die Unabhängigkeit gelten als die von der Korruption zerfressene Altpartei Partido Popular. Wir können ein ähnliches Phänomen auch in der Kampagne gegen die gelben Schleifen an öffentlichen Plätzen in Katalonien sehen. Führende pro-spanische Politiker fordern ihre Wähler auf, die Schleifen, die Unabhängigkeitsbefürworter oft in Eigeninitiative angebracht haben, zu entfernen. Dabei ist es etwas ganz Anderes, ein Symbol, das für eine bestimmte Meinung steht, anzubringen als es zu entfernen. Es geht um Meinungsfreiheit, auch wenn die manchmal unbequem ist. Wenn diese Debatte wie in einem demokratischen Staat als unter gleichberechtigten Meinungen angesehen werden würde, könnten die Politiker ja dazu aufrufen, zum Beispiel die Plätze im Gegenzug mit rot-gelben Schleifen zu füllen.

HalleSpektrum: Wie schlimm sind die Übergriffe bzw. Provokationen der Unionisten oder ist das nur aufgebauscht von den Unabhängigkeitsbefürwortern?

Es gibt durchaus eine Wahrnehmung, dass diese Übergriffe mit der Zuspitzung des Konflikts zwischen Barcelona und Madrid auch zugenommen haben. Der katalanische Fotograf Jordi Borras, der seit Jahren die rechtsradikale Szene in Katalonien und Spanien beobachtet, hat einen Bericht dazu auf Media.cat mit dem Titel „Im Namen Spaniens“ veröffentlicht und unter anderem festgestellt, dass gerade im letzten Herbst diese Aggressionen laut Statistik zugenommen haben, besonders an Tagen, an denen Großdemonstrationen für die Einheit Spaniens stattfanden. Ein verlässliches Gesamtbild gibt es dazu aber noch nicht. Auf jeden Fall bestätigen seine Beobachtungen auch die Wahrnehmung, dass diese Provokationen inzwischen nicht mehr nur der rechtsradikalen Szene zuzuordnen sind, sondern in gewisser Weise gesellschaftsübergreifender werden. Am Tag der Hispanidad, dem Nationalfeiertag Spaniens am 12. Oktober, gab es zwar schon immer Demonstrationen von Franco-Anhängern in den Zentren der Großstädte. An dem Tag marschierten Ultras – von der Polizei unbehelligt, denn in Spanien ist das weitestgehend legal – mit franquisischen Symbolen und Hitlergruß durch die Innenstädte. Das war aber immer eine absolute Minderheit. Inzwischen marschieren sogar in der Presse bekannte Anhänger der rechtsextremen nationalistischen Szene in der ersten Reihe mit Politikern aus dem Establishment wie Ciutadanos oder sogar den Sozialisten bei Massendemonstrationen von mehr als 300.000 Teilnehmern gegen die Unabhängigkeit. Das heißt längst nicht, dass alle Demonstranten auf diesen Demos diese Ansichten teilen, aber diese rechtsextremen Elemente werden in diesem Umfeld geduldet, weil sie sich für das gemeinsame übergeordnete Ziel einsetzen: die Einheit der spanischen Nation.
Generell hat man den Eindruck, dass in der Frage der staatlichen Einheit in bestimmten Medien, in der Justiz und in bestimmten politischen Kreisen nicht selten der Zweck die Mittel zu rechtfertigen scheint. Und was Borras’ Untersuchung auch zeigt, dass es immer häufiger Angriffe auf Journalisten gibt, besonders von bestimmten katalanischen Medien.
Erst letzte Woche kam es in Barcelona zu einem tätlichen Angriff auf Journalisten vom Madrider Fernsehen während einer Demonstration, weil die Demonstranten sie mit einem Kamerateam vom katalanischen Sender TV3 verwechselt hatten. Das katalanische öffentlich-rechtliche Fernsehen wird seit letztem Herbst gerade von Parteien wie Ciutadanos und pro-spanischen Prominenten als “indoktrinierend” dargestellt, obwohl sie maximal eine Quote von 20 Prozent in Katalonien haben. Selbst wenn man dieser Auffassung ist, ist natürlich der gewaltsame Übergriff auf den Kameramann eines bestimmten Senders nicht nur Gewalt sondern auch eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Jetzt könnte man sagen, dass passiert auch anderswo. Der Unterschied liegt aber darin, dass man erwartet, dass die staatlichen Medien darüber offen berichten und die etablierten demokratischen Parteien diese Gewalt verurteilen. Hier war dieser Übergriff auf das Kamerateam von TV Madrid in allen katalanischen Medien. Der mitbetroffene Reporter denunzierte das Ereignis auf den sozialen Netzwerken. Aber im staatlichen Fernsehen TVE wurde darüber nicht berichtet, von der Demonstration schon: Man zeigte Albert Rivera, Vorsitzender der rechtsliberalen Partei Ciutadanos, die zurDemo aufgerufen hatte, wie er mit dem Finger auf die Unabhängigkeitsbefürworterzeigte und sagte, sie würden das Zusammenleben mit gelben Schleifen gefährden.Und man fügte hinzu, es wäre zu Spannungen gekommen, nicht mehr. Auch sind klare Verurteilungen aller demokratischen Parteien ausgeblieben bzw. man hat eher davon geredet, dass in Katalonien das Zusammenleben in Gefahr sei. Dasszum Großteil diese Gefahr durch einen bestimmten politischen Diskurs gesät wird,wird dem spanischen Wähler vorenthalten. An diesen verbalen und physischen Aggressionen und der Manipulation in den staatlichen Medien scheint momentan auch Pedro Sánchez’ Mandat nichts zu ändern.

gelbe Bänder in Ribes de Freser

HalleSpektrum: Worin könnten die Gründe für diese Übergriffe liegen?

Um diese Übergriffe einordnen zu können, ist es interessant einen Blick in die Geschichte zu werfen. Eines der Hauptziele des Generals Francisco Franco, der 1936 in Spanien einmarschierte und den Krieg gegen die Zweite Spanische Republik führte, war die Einheit Spaniens und damit explizit die Verteidigung der spanischen Nation. In Deutschland und Italien verloren seine Unterstützer, in Spanien gewann Franco den Krieg. Nach dem Tod des Diktators 1975 kam es zu einem Übergang zur Demokratie, bei der die spanische Monarchie auf Wunsch Francos wieder eingeführt wurde, um die Macht der führenden Eliten auch in der Demokratie zu sichern. Gleichzeitig wurde der Gedanke der Vorherrschaft der spanischen Nation in einem plurinationalen Staat und der damit verbundene Erhalt der territorialen Einheit als einer der Grundpfeiler in der spanischen Verfassung verankert. Dies sicherte den Erhalt der Kontrolle dieser konservativen Eliten (inklusive der Kirche) über den Vielvölkerstaat – und gegen eine Republik. Gleichzeitig gab es eine komplette Amnestie für die Verbrechen des Bürgerkriegs und der franquistischen Diktatur. Dies bedeutete, dass die Verbrechen der Franquisten nicht nur straffrei blieben und es keine Entschädigung für die Opfer gab, sondern dass diese Verbrechen als solche nie öffentlich anerkannt wurden. Auch die illegalen Enteignungen von Gegnern des Franco-Regimes und die Korruptionsnetze, die bis in die heutige Zeit Politik und Eliten miteinander verflechten, wurden nicht aufgedeckt. Es gab also keine historische Aufarbeitung des Spanischen Bürgerkrieges und der 40 Jahre dauerten Franco-Diktatur. Franquistisches, d.h. laut vieler Historiker, sehr autoritäres Gedankengut, franquistische Symbole, Gesten etc. sind absolut salonfähig. Eine Francisco-Franco Stiftung sorgt für den Erhalt der Weltanschauung des Diktators und wurde lange Zeit mit öffentlichen Mitteln gefördert. Mit der Diskussion der Exhumierung Francos sehen wir auch wieder, wie viele Menschen aller Altersgruppen den Diktator verteidigen, weil er in Augen vieler Spanier eben kein Diktator war, sondern “für Ordnung und Ruhe und den Zusammenhalt des Landes sorgte”, was zum Teil auch einem gewissen Mantel des Schweigens in der Geschichtsschreibung zuzuschreiben ist. In Deutschland sehen wir gerade, dass wir trotz historischer Aufarbeitung Problememit Rechtsextremismus haben und wir sind uns unserer Erfahrungen mit der Gefährlichkeit eines ausgrenzenden Nationalismus sehr bewusst. Im Gegensatzdazu hält man in Spanien besonders im rechten und rechtsextremen Sektoren an einem starken Nationalismus fest, der sich durch die katalanischen Unabhängigkeitsbewegung bestätigt fühlt und breiter wird. Aus der historischen Erfahrung heraus, reagiert dieser Sektor dann auch schnell mal mit Gewalt und findet es zudem völlig in Ordnung, politische Gegner solange wie möglich im Gefängnis verschwinden zu lassen. Es ist auch vielsagend, dass gerade diese extrem pro-spanischen Sektoren die Führungspersönlichkeiten der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung als Nazis beschimpfen oder einen moderaten Konservativen wie Artur Mas mit Adolf Hitler vergleichen. Generell bietet sich dem rechtsextremen Sektor in Spanien eher eine nationale Minderheit wie die katalanische als eine Angriffsfläche als zum Beispiel Flüchtlinge.

HalleSpektrum: Es gab eine bilaterale Konferenz zwischen katalanischen und spanischen Regierungsvertretern. Es hieß, die Katalanen wären enttäuscht. Warum? Was ist schief gelaufen?

Die Bewegung befindet sich in einer komplexen Situation: Einerseits ist man sich zwar einig, dass es erstmal gilt, Handlungsfähigkeit wieder zu erlangen, dass heisst, eine handlungsfähige Regierung. Andererseits ist man sich nicht darüber einig, wie schnell und auf welchem Wege man das Mandat des 1. Oktober Referendums überhaupt umsetzen kann. Inzwischen ist die Rede von einem neuen, verhandelten Referendum. Dass das ein rhetorischer Vorschlag ist, ist den meisten wohl bewusst, denn kein spanischer Politiker wird dies in den nächsten Jahren durchbekommen, Pedro Sanchez auch nicht bei seiner eigenen Partei. Es geht der katalanischen Führung wohl eher darum, Zeit zu gewinnen, ihre eigene Macht wieder zu stärken, und eine neue gemeinsame Strategie im Unabhängigkeitslager zu schaffen. Zudem gibt es aktuell, auch Spanienweit, eine vertikale Vertrauenskrise, das heißt, zwischen den Bürgern – dem Druck von unten – und den politischen Führungen: in Spanien wegen der massiven Korruption und in Katalonien wegen der fehlenden Durchsetzung der Unabhängigkeit im letzten Herbst. Dieses Vertrauen wieder zu erlangen und im Fall Kataloniens das Unabhängigkeitslager wieder zu einigen und zu mobilisieren, bedarf einiger Zeit und viel politischen Geschicks. Allerdings ist nach neusten Umfragen die Zahl der Befürworter nicht gesunken und bis jetzt hatten auch die Reaktionen aus Madrid sehr zum Aufschwung der Unabhängigkeitsbewegung beigetragen. Dennoch muss man sagen, dass man unter Sánchez wenigstens wieder miteinander redet, es hat also eine verbale Deskalation stattgefunden. Es bleibt nur fraglich, ob der neue ​Premier dem Unabhängigkeitslager etwas Glaubhaftes anbieten kann. Die politische Lage bleibt offen und angespannt.
Und das Grundproblem in Katalonien bleibt auch: die Ziele und Bedürfnisse der nach neusten Umfragen knapp 51 % der Katalanen, die sich einen eigenen Staat wünschen, verschwinden nicht von einem Tag auf den anderen. Es muss schon langfristig eine Lösung für alle Katalanen geben, wenn man denn den Wunsch hegt, Spanien langfristig mit demokratischen Mitteln zusammen zu halten. Momentan benutzt man dazu eher die Justiz.

Ribes de Freser, Gemeinde der katalanischen Republik

HalleSpektrum: Wie geht es jetzt weiter? Besteht die Hoffnung, dass die politischen Gefangenen freigelassen werden und die geflohenen catalanischen Politiker nach Hause können?

Wie gesagt, Pedro Sánchez kann mit seiner Minderheitsregierung keine großen Schritte machen. Und er hatte die Zwangsregierung durch Rajoy Regierung in Katalonien verteidigt. Zudem hat er erst vor Kurzem unterstrichen, dass die Justiz unabhängig agiere und die Regierung sich nicht einmischen werde. Die richterlichen Entscheidungen anderen EU-Staaten, die geflohenen katalanischen Politiker nicht wegen Rebellion auszuliefern, ist bisher in Spanien auf unfruchtbaren Boden gefallen, im Gegenteil, Deutschland wurde ironischer Weise gerade von Anhängern des Partido Popular, deren Ehrenvorsitzende eine ehemaliger Minister unter Franco war, als Nazi-Deutschland beschimpft und die EU-Abkommen wurden in Frage gestellt. Erst kürzlich wurde bekannt, dass selbst die neueingesetzte Generalstaatsanwaltschaft an den Anklagen wegen Rebellion festhält und sie auch auf den ehemaligen Chef der katalanischen Regionalpolizei, Josep Lluis Trapero, ausweitet.
Es sieht also nicht danach aus, dass mit einer baldigen Freilassung der Gefangenen zu rechnen sei. Ihre Anwälte gehen sogar von sehr hohen Haftstrafen aus, selbst wenn der Strafbestand der Rebellion letztlich nicht standhalten sollte. Aufruhr und angebliche Veruntreuung können auch zu mehr als 12 Jahren Gefängnis führen. Die meisten Katalanen und die Anwälte der verfolgten Politiker hoffen auf die Entscheidungen der europäischen Gerichte, wo die Verfahren mit großer Sicherheit landen werden. Trotzdem muss man insgesamt von einigen Jahren ausgehen und dann muss man schauen, wo die Unabhängigkeitsbewegung ist. Deshalb steht man vor der Frage: Wem spielt die Zeit in die Hände?

HalleSpektrum: Ich habe gelesen, die isländische Unabhängigkeit könnte als Vorbild für Catalunya dienen. Warum bleibt die spanische Regierung nicht so gelassen ​wie die dänische Regierung vor genau 100 Jahren?

Der spanische Nationalismus wird die Unabhängigkeit eines Teils seines Territoriums auf demokratischem Weg mittelfristig (und wahrscheinlich auch langfristig) nicht zulassen. Mit Katalonien zu verhandeln, würde bedeuten, andere Nationen als gleichwertig im Staat zu anzuerkennen, denn man würde das Selbstbestimmungsrecht der Katalanen akzeptieren. Allein die Idee von einem Selbstbestimmungsreferendum, die Pedro Sánchez vor einigen Jahren als Parteivorsitzender äußerte, kostete ihn fast seine politische Laufbahn in der PSOE. Allein der Ausdruck “wir fühlen uns als Nation” im katalanischen Statut trug u.a. zu seinem Scheitern bei, denn der Partido Popular und auch einige namenhaften Sozialisten akzeptierten das nicht. Damals antworteten die Verfassungsrichter, es gäbe nur eine Nation, die spanische.
Katalonien trägt zudem mehr als ein Fünftel zur Wirtschaftskraft Spaniens bei, ein Land, das tiefgreifende Reformen scheut. Die spanischen Eliten und der Ibex35, die das Land ziemlich gut kontrollieren, haben in keiner Weise ein Interesse an einer Änderung des Status Quo. Ein interessantes Detail ist, dass die Unternehmen des Ibex35 sehr geringe Steuern auf ihre Gewinne zahlen und fast alle ehemaligen führenden Politiker von PP oder PSOE nach ihrem Rückzug aus der Politik als Berater im Energiesektor oder bei Banken landen. Die Korruption in Spanien ist, wie bereits oben angedeutet, nicht nur finanziell, sondern auch strukturell und somit auch politisch. In vereinfachten Worten: Eine Anfechtung dieser Strukturen durch die katalanische Frage würde den derzeitigen Aufbau des gesamten Staates in Frage stellen. In diesem Sinne sind Befürchtungen in der EU vor einem Niedergang der spanischen Wirtschaft und der sozialen Stabilität im Falle einer nicht verhandelten Abspaltung durchaus berechtigt.
Die katalanische Führung hat in den letzten Jahren auch entscheidende Fehler begangen und sich sehr verkalkuliert, vor allem was die soziale Masse für ihr Anliegen betrifft und sie haben die Reaktion Spaniens unterschätzt. Man hat wahrscheinlich zu lange in einer Art Symbiose mit Madrid gelebt, vor allem unter dem sogenannten Pujolismus, wo man gute Deals mit Madrid aushandelte. Und man dachte tatsächlich, dass der Druck auf den 1. Oktober hin Spanien zum Verhandeln zwingen würde, wozu aber die entscheidende Masse, gerade aus internationaler Sicht, eben fehlte. Andererseits haben die katalanischen Politiker versucht, ihrem Mandat gewaltfrei gerecht zu werden. Und im Nachhinein explizit gewaltfreien Menschen Gewalt anzuhängen ist einfach unglaubwürdig und schadet Spaniens junger Demokratie. Auch hat der König in seiner Vermittlerrolle komplett versagt. Dies hilft der Unabhängigkeitsbewegung, um eventuell mehr Befürworterfür ihr Projekt unter den spanischen Republikanern zu finden, die in Katalonien leben.
Eine förderalere Lösung für Spanien ist sicherlich immer noch für viele Katalanen wünschenswert aber eher unwahrscheinlich. Die Grenze der aktuellen Föderalisierungsfähigkeit Spaniens sah man am Scheitern des katalanischen Autonomiestatus 2010, bei dem ausgerechnet das Verfassungsgericht den Kompromiss der Transition zwischen den kleineren Nationen und dem Zentralstaat aufgekündigt hat. Das war damals der Startschuss zum Anschwellen der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien. Mit dem harten Durchgreifen seitens Madrids seit letztem Herbst ist auch der Vertrauensbonus bei sehr vielen Menschen in Katalonien aufgebraucht. Letztendlich bleibt wohl die größte Bedrohung für die spanische Einheit Spanien selbst.

Frau Schreiber, ganz herzlichen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.

Krystyna Schreiber ist die Autorin des Buches „Die Übersetzung der Unabhängigkeit“ und lebt als Journalistin in Barcelona. Hier zu bekommen.​

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