Mein „Weihnachtswunder“

26. Dezember 2019 | Nachrichten | Ein Kommentar

Es war im Jahr 1960 in Quedlinburg, als plötzlich unser Vater einen Schlaganfall erlitt und kurze Zeit später verstarb. Unsere Mutter, selber kränkelnd, beschloss mit ihren 3 Kindern – 14, 11 und 10 Jahre alt – zu ihren Eltern nach Rathenow zu ziehen. Bei den Großeltern hatten wir immer die Sommerferien verbracht. Sie hatten ein Schaf, zwei Ziegen, Hühner, Katzen, Kaninchen und einen Wachhund. Im großen Garten gediehen unter Omas Hand Obst und Gemüse prächtig. Kaum bei ihnen angekommen, weihte mich Mutter in ihre wirklichen Pläne ein. Sie wollte mit uns zu ihren Schwestern nach Dortmund weiterreisen, in den Westen, über Westberlin mit uns flüchten. Für mich klang das recht hoffnungsvoll, denn von den Tanten hatten wir öfter Westpakete bekommen mit heißbegehrten Kaugummis und köstlicher Schokolade.
Ich hatte verstanden, dass wir nur mit dem Nötigsten ausgestattet nach Westdeutschland flüchten wollten. Schon am nächsten Morgen ging es los. Wir fuhren mit der Eisenbahn bis Berlin-Staaken. Am Grenzübergang in die Stadt Berlin beäugten uns misstrauisch die Grenzsoldaten, kontrollierten die Papiere meine Mutter, ließen uns aber dann passieren. Ich schleppte 2 Koffer; mein kleiner Bruder und meine Schwester klammerten sich verängstigt an die Hände meiner Mutter. Unsere Reise endete wenig später im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde. Das war 4 Tage vor meinem 14.Geburtstag. Im November wurden wir dann aus Westberlin ausgeflogen und in einem westfälischen Notaufnahmelager für Flüchtlinge untergebracht. Barackenzimmer, ca. 15 m², 2 Doppelstockbetten, ein Tisch und 4 Stühle. Tristes Lagerleben folgte. Nasskalt war der Dezember. Kälte und Feuchtigkeit krochen durch die Barackenwände. Fast nichts erinnerte daran, dass Weihnachten bevorstand. Mein Vater hatte immer einen riesigen Weihnachtsbaum für unsere Altbauwohnung in Quedlinburg organisiert. Ich durfte ihm beim Aufstellen helfen. Unter den Baum passten viele Geschenke. Schöne Erinnerungen. Diesmal würde es wohl nichts geben. Meine Mutter litt sehr darunter. Ein paar Spiele und gebrauchte Kleidung hatte sie bekommen. Mehr war nicht drin. Ein trauriges Weihnachtsfest schien auf uns zu warten.
Aber dann kam alles ganz anders. Am 24.Dezember kam überraschend ein gutgekleidetes Ehepaar ins Lager, lud uns in ihren nicht so ganz neuen Volkswagen und fuhr mit uns durch die einsetzende Dunkelheit und den nicht enden wollenden Regen. Nach gut 2 Stunden Fahrt kamen wir an. Riesig und gelungen war dann die Überraschung. Uns erwartete im warmen Wohnzimmer ein wundervoller geschmückter Weihnachtsbaum wie ich es von daheim kannte. Und dann waren da auch Geschenke für uns Kinder. Erst scheu aber dann von einem unfassbaren Glücksgefühl erfüllt packten wir die Geschenke aus. Es gab Bücher, neue Kleidung, Südfrüchte, Kekse und Süßigkeiten. Wir hatten keine Geschenke für unsere Gastgeber. Aber für sie waren unsere leuchtenden Kinderaugen, unsere Freude ihr Glück. 2 Tage später kehrten wir vollgepackt mit den guten Gaben zurück ins nun nicht mehr so trist wirkende Flüchtlingslager.
Leider verloren wir uns aus den Augen. Manches Detail ist aus der Erinnerung entschwunden. Aber das Wissen darum, dass und wie man Flüchtlingen Gutes tun kann ist geblieben, dank der „Engel“ von 1960.
(H.J. Ferenz)

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