Wie der Faschismus über uns kam

27. Oktober 2019 | Kultur, Rezensionen | Keine Kommentare

Ich bin enttäuscht! Ein Kritiker soll ja kritisieren. Was war gelungen, was weniger, was gar nicht. Aber an diesem Abend gibt es nichts zu meckern. Das ist Theater, wie es einst erdacht wurde und immer noch funktioniert. Eine Geschichte wird erzählt, wir erfahren etwas über Menschen in schwierigen Zeiten.

Die Vorlage ist ein amerikanisches Musical, sehr erfolgreich, verfilmt mit Liza Minnelli, und jetzt in Halle im Opernhaus als Koproduktion des neuen theaters mit der Oper.
Die Geschichte ist gar nicht kompliziert. Ein Amerikaner kommt ins vorfaschistische Berlin, verliebt sich unsterblich, und erlebt die Machtergreifung der Nazis. Erlebt den Judenhass und die Umwertung aller Werte. Wer jetzt an Björn Höcke denkt, liegt nicht ganz falsch. Nicht nur die Gesellschaft, auch die menschliche Beziehung geht kaputt. Das Völkische besiegt das Humane. Am Ende bleiben Trümmer.

Die Schauspieler durch die Bank auf ganz hohem künstlerischem Niveau. Cynthia Cosima Erhardt als Sally Bowles braucht den Vergleich mit Liza Minnelli nicht scheuen. Schmal und zierlich spielt sie die Femme fatale, die alles gibt, um Menschen zu unterhalten, um gesehen zu werden. Mit einer „Röhre“, die kein Auge trocken lässt. Unterhaltung ist ihr Leben, da gibt sie denn auch ihr Kind auf. Florian Krannich als Conferncier spielt sich quasi die Seele aus dem Leib, um witzig zu sein, um anzukommen bei den Leuten – egal in welchem System. Und das macht Krannich sowas von überzeugend, da bleibt einem die Spucke weg! In der Pause spielt er dann vom Balkon des Opernhauses das Lied vom kleinen Trompeter – ein kleiner aber wirkungsvoller Hinweis, dass es wohl auch Kommunisten gab, die gegen die Nazis gekämpft haben.
Den Nazi, der das System verkörpert, spielt Harald Höbinger und er spielt ihn sympathisch. Das „neue tausendjährige Deutschland“ kommt aus der Mitte, ist ordentlich und sauber, man kann ihm gar nicht böse sein.
Matthias Brenner und Barbara Schnitzler geben das ältere Paar. Sie vermietet Zimmer, er verkauft Gemüse. Und als er ihr eine Ananas schenkt wird daraus fast eine Hochzeit. Wenn er nicht Jude wäre. Die beiden spielen das ganz unbeholfen und anrührend, mit Charme und Verstand.
Dann taucht ein kleines Lied auf: „Der morgige Tag ist mein…“, ein schönes Heimatlied. Es deutet eine Wende an.
Und mittendrin ein ziemlich erfolgloser amerikanischer Schriftsteller, der im Berlin der 30iger Jahre einen neuen Roman schreiben will – absolut überzeugend gespielt von Nils-Thorben Bartling.
Das Ganze wird musikalisch in hervorragender Weise begleitet von der Staatskapelle Halle unter der Leitung von Peter Schedding. Und diese musikalische Interpretation allein ist astrein und auf hohem Niveau ein Genuss für sich.
Und diese Tänzer, choreografiert von Dominik Büttner! Die wirbeln über die Bühne und schaffen singend und tanzend mit ihrer Körperlichkeit die lebendige Szenerie der dreißiger Jahre. Das sind Laien und die sind sooo gut!
Es ist eine sehr opulente Inszenierung. Viele der Beteiligten sind jetzt nicht erwähnt und das ist ungerecht. Bis in die kleinste Rolle stimmt alles. Und singen können die! Das grandiose Bühnenbild von Claudia Charlotte Buchard muss man erleben. Die phantastischen Kostüme von Henrike Engel kann man bestaunen.
Das Premierenpublikum jedenfalls bedankte sich mit einem sehr langen stehenden Applaus. Also: es war total begeistert.
Natürlich erzählt ein amerikanisches Musical nicht, wer den Faschisten den Weg zur Macht geebnet hat. Brechts DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI wäre da erkenntnisreicher. Aber publikumswirksamer und erfolgreicher ist zweifellos CABARET. Das kann man einem Theater in diesen Zeiten nicht verdenken.
Auf dem Nachhauseweg denke ich: Halle kann Hollywood! Vieleicht sogar besser.
Und inhaltlich stellt sich die Frage: Sind wir heute von gestern? Henriette Hörnigks Inszenierung schenkt uns gute Gründe zum Nachdenken.

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