Moderne Jugend ?

24. September 2019 | Kultur | Keine Kommentare

Sehr zu empfehlen, finden wir, ist die neue Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen, die vom 23. September 2019 bis zum 9. September zu besichtigen ist (Daten siehe unten). Schon die Eröffnung am heutigen Tag, 22. September 2019, war etwas völlig Neues für die Franckeschen Stiftungen. „Das hat der Freylinghausen-Saal noch nicht gesehen“, stieß der Kurator Prof. Dr. Holger Zaunstöck nach dem Tanzzyklus »Afectos humanos« von Dore Hoyer (1911–1967), getanzt von Nily Freyer, hervor.

Stiftungsdirektor Thomas Müller-Bahlke

Und tatsächlich! Im Bauhaus-Jubiläum gehen die Franckeschen Stiftungen eigene Wege. Wie Prof. Dr. Müller-Bahlke, der Stiftungsdirektor, es bei seiner Eröffnungsrede ausdrückte: Es sind nicht die Künstler, Politiker, Ikonen des Bauhauses, auf denen die Stiftungen in ihrer Jahresausstellung das Augenmerk legen, sondern die jungen Menschen der Zeit von 1890 – 1933, die Teile der Moderne mitgetragen (oder sie abgelehnt) haben. Das Ausstellungsmachen ein Teamsport ist, belegt sein Dank an die vielen Mitarbeiter der Franckeschen Stiftungen, die „Moderne Jugend ?“ möglich gemacht haben. Das mag für die Zuhörer ermüdend sein, finden wir aber wichtiger als die Erwähnung von Politikern, die jeder Ausstellung Glanz und Glamour verleihen möchten.

Bildungsminister Tullner ist optimistisch, dass die Welt nicht untergeht.

Bildungsminster heute optimistisch mit Platten

Apropos: Mit Ministerpräsident oder Oberbürgermeister können wir heute nicht dienen. Aber Beigeordnete, Landtagsabgeordnete und Stadträte inkl. der Vorsitzenden waren zugegen. Bildungsminister Marco Tullner sprach Grußworte. Fast wäre er zu spät gekommen, denn sein Fahrrad hatte einen Platten. Trotz der Widrigkeiten war seine Rede ausgesprochen freundlich. Das war zu erwarten. Denn den Franckeschen Stiftungen, insbesondere der Latina A.H.F., ist er sehr verbunden. Der Tenor ging in die Richtung, dass wir der Jugend mehr Optimismus vermitteln müssen. Die Welt geht morgen nicht unter. Das ist nicht zu erwarten. Die Jugendlichen sollen doch Vertrauen haben in die Lösungskompetenz der Politik.

Ausstellungseinführung getanzt

Aber die beste Einführung in den Ausstellungsbesuch war, da mögen sich Professor Müller-Bahlke und Bildungsminister noch so viel Mühe geben, der Mensch ist doch Gefühl, der Tanz, mit dem Nils Freyer die Herzen des Eröffnungspublikums zufielen. Begleitet von Ulrike Buschendorf (Klavier) und Marco Philipp (Schlagzeug) tanzte er  „Eitelkeit“, „Begierde“, „Hass“, „Angst“ und „Liebe“, den Tanzzyklus »Afectos humanos« von Dore Hoyer.

Auch wenn Ausdruckstanz nur noch selten aufgeführt wird, war das Publikum im vollen Freylinghausen-Saal so begeistert, dass Nily Freyer noch mehrmals mit seinen beiden Mitstreiter/innen auf die Bühne kommen mußte, um sich zu bedanken. Wie schon erwähnt, fand Kurator Prof. Dr. Zaunstöck danach nur schwer zurück zu Worten:

Was war 1890 ?

Es ist eine Ausstellung, die die Sicht der Jugendlichen wiederspiegelt. Und das ist keine einheitliche Sicht. Wie heute, gab es auch damals nicht DIE JUGEND, die Ansichten zur Moderne konnten weit auseinandergehen. Deswegen auch der Titel der Ausstellung „Moderne Jugend ?“ mit dem Fragezeichen. Von der zeitlichen Eingrenzung von 1890 bis 1933 ist wohl nur der zeitliche Beginn noch erklärungsbedürftig, das letzte Datum dürfte aufhellend genug sein. Was aber war 1890? Auch Bildungsminister Marco Tullner war da ratlos. In diesem Jahr hielt Kaiser Wilhelm II. eine Rede zur Pädagogik auf der Schulkonferenz in Berlin. Auch der damalige Stiftungsdirektor Frick nahm persönlich an dieser Konferenz teil und war von der Rede des Monarchen, auf der gefordert wurde, Schulen stärker für nationale Zwecke zu nutzen und das Latein zu Gunsten des Deutschen einzudämmen, schwer beeindruckt.

Blick in die Ausstellung

„Sehen Sie es sich selbst an“, sagte der Kurator aufmunternd in seiner Rede und das werden wir tun und ermuntern Sie damit, uns bei Gelegenheit ausführlicher nach zu eifern. Was ist Jugend? Und wie vielfältig ist sie im Untersuchtungszeitraum von 1890 bis 1933? So würde ich den ersten Raum beschreiben, den wir sahen. Kurze Entspannung am Kopfhörer mit einem Lied von Claire Waldoff über die ach so patente Berlinerin und wir durchschritten die Räume „Das Klassenzimmer“ und „Das Stadion – Sport und Sexualität“. Der Höhepunkt ist der Raum „Der Ring – Jugend in der Kunst“, deswegen auch farbig abgehoben und im Herzen der Ausstellung gelegen. Beeindruckend die Graphiken von Wilhelm Krieg, einst Schüler der Latina A.H.F.. Und es blicken einen die Gesichter von Jugendlichen an, die gar nicht so viel anders sind, als die Jugend von heute. Bei allem Optimismus von Marco Tullner: Am Ende waren es die erwachsenen Politiker mit ihrer Lösungskompetenz, die diese Jugendlichen in das Verderben des 1. und des 2. Weltkriegs getrieben haben. Damit sind wir im nächsten Raum „Der Schauplatz – Militarisierung und Krieg“. Bereits von Wilhelm II. mit dem verstärkten Nationalismus den Schulen in die Wiege gelegt, hatte die Moderne nicht die Kraft, dem zu widerstehen. Die Diskussion über „Schund und Schmutz“ kommt uns auch gar nicht so fern vor. Wir sind im Raum „Die Werkstatt – Medien“. Ja, hier spielt auch das Radio eine Rolle. Was in der Jugend der Autorin dieser Zeilen die Bastelei an den ersten Computern war, so bauten die Jugendlichen der Moderne ihre eigenen Radios. Im letzten Raum „Die Reifeprüfung – Jugendliche Selbstaussagen“ kommen die Jugendlichen von einst besonders zu Wort. Hier erhalten sie verstärkt eine Stimme. Aber das ist in allen Räumen der Fall und die besondere Leistung von „Moderne Jugend?“. So war es konsequent, dass die vier Schüler vom Latina Brass Quartett, die die Ausstellung umrahmten, den ersten und den letzten Ton setzten. In der Ausstellung sind es die Jugendlichen von 1890 – 1933, denen eine Stimme gegeben wird. Und so wollen wir diese kurze Ausstellungsempfehlung auch mit einer Stimme einer Jugendlichen (willkürlich aus dem unten aufgeführten Katalog ausgewählt) von damals beschließen:

„Während meiner Zeit am Theater hatte ich so recht die Licht- und Schattenseiten deselben erkannt, und es kamen mir schon oftmals Zweifel, ob ich wohl in dieser Welt, in der es so viel Falschheit, Gemeinheit und Tücke gab, mich später als Tänzerin durchsetzen könnte.“

Elfriede Vogel, 1929, die am Ende Turn- und Sportlehrerin werden wollte, Katalog S. 248, 249

 

Blick in die Ausstellung: Der Ring – Jugend in der Kunst

HISTORISCHES WAISENHAUS (FRANCKEPLATZ 1) | 23. SEPTEMBER 2019–9. FEBRUAR 2020 | DI–SO, feiertags 10–17 UHR | EINTRITT 6 EURO, ERM. 4 EURO, KINDER UND JUGENDLICHE BIS 18 JAHRE FREI

Dazu gibt es auch einen Katalog (leider folgt der Katalog nicht dem Rundgang in der Ausstellung):

Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933. Herausgegeben von Holger Zaunstöck und Claudia Weiß unter Mitarbeit von Tom Gärtig und Claus Veltmann. Halle 2019

Neue Forschungen zur Stiftungsgeschichte zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Mit sieben Hauptessays von Jens Elberfeld, Leonard Helten, Kerrin Klinger, Katrin Moeller, Olaf Peters, Barbara Stambolis und Claudia Weiß. Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 36

Ca. 248 S. Ca. 210 Abb., € 28,00; ISBN 978-3-447-11193-5

Fotos und Text von ToK

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