Händelfestspiele: Premiere von Händels „Die glückseligen Zwillinge“

20. Mai 2018 | Nachrichten | Keine Kommentare

Sopranistinnen Anne Schneider und Julia Kirchner (Foto Maik Schuck)

In der Menschheitsgeschichte spielten rituelle Tänze eine wichtige Rolle. Mit charakteristischen Tanzbewegungen werden Geschichten wortlos, aber ausdrucksstark erzählt. Szenische Darstellungen eines inneren und äußeren Geschehens dienen als künstlerische Kommunikation zwischen Akteuren (Darstellern) und dem Publikum. Wesentlicher Bestandteil der Kommunikation ist die Kunst der Gestik. In Japan z.B. hat sie sich beim Kabuki- und No-Theater bis heute erhalten. Wichtige Merkmale des Kabuki sind charakteristische Posen der Darsteller, die farbenfrohen Kostüme und die Schminkstile. Alle heutige Gebärden und Tanzbewegungen des No sind Ergebnis eines langen Prozesses der Stilisierung, d. h. eines allmählichen Weglassens nicht-wesentlicher Elemente in der ursprünglichen Imitation realer Gesten und einer eleganten, konzentrierten Formalisierung des Wesens solcher Aktionen wie Weinen, Kämpfen, Geistererscheinungen usw.. Diese äußerst stilisierten Gebärden sind in die verhältnismäßig wenigen Grundschritte und Grundfiguren des Tanzes aufgenommen.
In Europa hat die Kunst der Gestik ihre Wurzeln in der Antike und war ein wichtiger Bestandteil der Rhetorik, die zur Zeit des Barock im Zentrum des Denkens und damit aller Künste stand. Als Kunstform des Absolutismus und der Gegenreformation war der Barock durch üppige Prachtentfaltung gekennzeichnet. Theater wurde zu einer Multimediaerfahrung. Am absolutistischen Hofe wurde selbst das Alltagsleben theatralisch arrangiert. Die entstandene Körperästhetik und „Sprache der Hände“ unterstützt das gesprochene und gesungene Wort, antizipiert und unterstreicht es, versinnbildlicht unausgesprochenen Subtext und spiegelt über Gesichtsausdrücke und Körperpositionen Emotionen nuancenreich wider. Vieles von dem Formenreichtum der barocken Gestik geriet jedoch in Vergessenheit. Barockopern werden heutzutage mit historischem Instrumentarium und im Sinne eines Regietheaters inszeniert. Das Leipziger Barockensemble „scenitas“ möchte die barocke Gestiksprache in ihren Konzerten wiederbeleben. In Verbindung mit dem Streben bzw. der Suche nach dem Originalklang, barocken Kostümen und der szenischen Umsetzung mittels Gestik und barocker Körpersprache lässt es musikalische und szenische Gesamtkunstwerke entstehen, die faszinieren und berühren. Trotz aller Regeln und ästhetischer Vorgaben des Barock handelt es sich um eine improvisatorische Kunst, die dem Sänger viel Freiraum zu Spontaneität lässt.
Die beiden Sängerinnen Julia Kirchner und Anne Schneider begeisterten sich während der Händel-Akademie Karlsruhe 2011 für die barocke Szenensprache und die tiefe Schönheit der barocken Gesten. Diese Kunst auf der barocken Opernbühne erlebbar zu machen ist den Sopranistinnen ebenso ein Anliegen, wie das Aufführen wiederentdeckter Werke jener Epoche. Sie gründeten das mitteldeutsche Barockensemble „scenitas“. Das umtriebige Ensemble widmet sich höchst erfolgreich der historisch informierten Aufführung – sowohl im musikalischen als auch im darstellerischen Sinne – barocker Werke. Das Debüt-Projekt, die barockgestische Inszenierung der der Schäferromanze „Aminta e Fillide“ von G.F. Händel, wurde 2015 mit großem Erfolg realisiert.

G.F. Händel, Portrait von B.Denner (Nat. Portrait Gall. London)

Im Rahmen der Händel-Festspiele 2018 wird es die bemerkenswerte Inszenierung einer Rarität geben: „Die glückseligen Zwillinge – The blissful Twins“. In dem szenischen Konzert werden Georg Friedrich Händels Vertonungen von Texten des im 18. Jahrhundert berühmten Dichters John Milton erklingen: die Music for Comus HWV 44, Auszüge aus Miltons arkadischer Dichtung L‘Allegro, il Penseroso ed il Moderato sowie Sätze aus dem Concerto grosso op. 6 Nr. 1. Die Music for Comus ist der musikalische Epilog zu einer Aufführung des Schauspiels Comus verfasst von John Milton. Die Geschichte erzählt von einem jungen Mädchen, welches im Wald verloren geht und den Zauberer Comus, Sohn des Bacchus und der Circe, trifft. Comus und sein Gefolge, die ausgelassenen Geister der Nacht, umschwärmen die Jungfrau und versuchen, sie mit allen möglichen Formen des sinnlichen Genusses zu verführen. Doch sie bleibt standhaft. Die Musik schrieb Händel für eine private Aufführung von Comus 1745. Sie wurde erst in den 60ern wiederentdeckt.
L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato (HWV 55) ist ein Oratorium in drei Teilen von Georg Friedrich Händel. Der Oratoriumstext basiert auf den beiden Dichtungen L’Allegro (Frohsinn) und Il Penseroso (Schwermut), in denen John Milton 1632 allegorisch den Gegensatz zwischen den beiden Stimmungen beschrieb. Diesen Dichtungen wurde auf Vorschlag Händels ein dritter Teil Il Moderato (Mäßigung) hinzugefügt. Das Werk entstand 1740.

Bassist Andrey Akhmetov (c) Gaetano Calabrese

Das junge mitteldeutsche Barockensemble „scenitas“ mit den beiden Sopranistinnen Julia Kirchner und Anne Schneider sowie dem Bassisten Andrey Akhmetov kombiniert Ausschnitte aus beiden Werken in der Tradition des Pasticcios. Es entführt in den Salon eines bürgerlichen Haushalts des 17. Jahrhunderts mit barocken Kostümen von Niels Badenhop und mit historischer Gestik. Regie führt die belgische Regisseurin, Tänzerin und Choreografin Sigrid T’Hooft, eine international ausgewiesene Expertin für barocken Tanz und Körpersprache des 17. und 18. Jahrhunderts. Premiere dieses für Augen und Ohren überaus großen Genusses wird am Sonntag 3. Juni, 15 Uhr im Löwengebäude der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sein. Dauer 75 Minuten (keine Pause); Ticket 30 EUR
(H.J. Ferenz)

 

Print Friendly, PDF & Email

Kommentar schreiben