Der 72. Deutsche Juristentag in Leipzig

30. September 2018 | Bildung und Wissenschaft | Keine Kommentare

Königin Silvia von Schweden; © CC BY-SA 3.0

Am gestrigen Freitag ist der 72. Deutsche Juristentag in Leipzig mit der Schlusssitzung zu Ende gegangen. Knapp 2.600 Juristen haben an dieser teilgenommen und über drei Tage zu verschiedenen Fachfragen ausführlich diskutiert. Mit einer Podiumsdiskussion in der Schlusssitzung angestoßen von einer einführenden Rede von Ihrer Majestät Königin Silvia von Schweden, wurde nochmal das den Juristentag prägende Thema des Familienrechts und der Perspektive der Kinder aufgegriffen.

Grundlegende Reform des Unterhalts- und Umgangsrechts gefordert
Zuvor wurden in den Schlussabstimmungen die einzelnen Fachdiskussionen abgeschlossen. Und auch hier zeigte sich, dass die deutschen Juristen im Bereich des Familienrechts eine grundlegende Reform des Unterhalts- und Umgangsrechts als dringend notwendig ansahen. Die Abteilung Familienrecht sprach sich für die Aufnahme des sogenannten Wechselmodells in das Familienrecht aus. Dabei wurde die Ersetzung des bisherigen Residenzmodells (Kinder sind bei Elternteil A, Elternteil B zahlt) als Standardmethode zwar abgelehnt, das Wechselmodell (Elternteil A und B teilen sich die Kinderbetreuung und die Unterhaltskosten anteilig) soll jedoch als gleichberechtigte Variante in das Gesetz aufgenommen werden, um den Familiengerichten eine dem Einzelfall angemessenere Entscheidung zu ermöglichen. Für die Einzelfallabwägung entscheidend sind dabei Konflikte zwischen den Eltern, Geschwisterbeziehungen, Kindesalter, die räumliche Distanz zwischen den Eltern und übergeordnet, welches Modell dem Wohl des Kindes (und nicht dem der Eltern!) am Besten Rechnung trägt. Im Rahmen der Diskussion haben dabei die Vertreter des Bundesjustizministeriums erkennen lassen, dass die Frage der Implementation des Wechselmodells in das Familien- und Unterhaltsrecht im Jahr 2019 auf der Agenda des Ministeriums stehen wird, sodass eine flexiblere Aufteilung der Kindesbetreuung und des Unterhalts in absehbarer Zeit möglich sein wird. Das bisher geduldete Scheitern von Betreuungsvereinbarungen zwischen den Eltern nur aufgrund der starren Unterhaltsregelungen wird vom Gesetzgeber zukünftig also nicht mehr akzeptiert.

Keine Sentencing Guidelines
Die Abteilung Strafrecht dagegen hat die Kernthese des Gutachters, nämlich die Notwendigkeit der Einführung von Sentencing Guidelines (also anhand der Intensität der Tat vorgegebene Strafen) nach US-amerikanischem Vorbild abgelehnt. Vor dem Hintergrund des sich aus verschiedenen Studien ergebenen Wildwuchses in der Strafzumessung, konnte sich die Abteilung jedoch dazu durchringen eine Datenbank zur Strafzumessung einzurichten, um den Richtern eine bundesweite, unverbindliche Orientierung für die Strafhöhe zu bieten. Der Juristentag hält in diesem Punkt die richterliche Unabhängigkeit somit für gewichtiger, als eine bundesweit einheitliche Strafzumessung.

Spurwechsel ermöglichen
Außerordentlich intensiv wurde in der Abteilung Öffentliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht über die Ermöglichung des sogenannten Spurwechsels für Flüchtlinge diskutiert. Vor dem Hintergrund des Gutachtens des in Fragen des Migrationsrechts ausgewiesenen Expertens Prof. Kluth von der MLU, sprach sich die Abteilung für die Ermöglichung eines Wechsels des Migrationsgrundes (Spurwechsel) weg von der humanitären Migration hin zur Arbeitsmigration für Flüchtlinge aus. Trotz der in der Diskussion erkennbaren, großen Skepsis unter Teilen der anwesenden Juristen, dass durch diese Ermöglichung, der Ausnutzung der humanitären Migration für die Erreichung der Arbeitsmigration Vorschub geleistet würde, war der überwiegende Anteil der Ansicht, dass es volkswirtschaftlicher Wahnsinn sei, Menschen in Deutschland auszubilden und einzustellen, nur um diese dann wieder abzuschieben. Gleichzeitig wurden aber strenge Hürden für den Spurwechsel gezogen. So soll dieser nur bei Nachweis einer Arbeitstätigkeit oder bei in Aussichtstehen einer Tätigkeit (also bei bereits unterschriebenem Arbeitsvertrag oder verbindlicher Zusage einer Arbeitsstelle) überhaupt möglich sein. Als weitere Kriterien zu beachten sind die Fragen des Standes der Integration und der Deutschkenntnisse.
In Hinsicht auf Fragen des Prozessrechts sprachen sich die Anwesenden daneben für die Ermöglichung eines Instanzenzugs für Klagen aufgrund einer Ablehnung bei humanitärer Migration aus. Nach einhelliger Ansicht fehlt es in diesem Bereich an einer ordnenden Hand der Obergerichte, die über die Frage einer generellen Verfolgungssituation für einzelne Staaten einheitliche Entscheidungen treffen können. So soll es dem (bisher nicht mit Fragen des Migrationsrechts befassten) Bundesverwaltungsgericht ermöglicht werden, die Verhältnisse in den Herkunftsstaaten verbindlich und bundeseinheitlich festzustellen, damit die untersten Gerichte nicht bei jedem Fall die allgemeine Lage erneut bewerten müssen. Unabhängig von der allgemeinen Lage bleibt die individuelle Bewertung der Verfolgung des Einzelnen aber Aufgabe der unteren Instanzen.

Unbürokratische Gruppenklagen ermöglichen
In der Abteilung Verfahrensrecht ließen die Juristen kaum ein gutes Haar an der zum 01. November eingeführten Musterfeststellungsklage. Fast einhellig – und insbesondere unter dem Eindruck der praktischen Folgen des als Grundlage dienenden Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz – wurde dieses Instrument als unzureichend angesehen. Die Debatte zeigte eindrucksvoll, warum eine moderne Gesellschaft einen effektiven kollektiven Rechtsschutz benötigt. Es geht bei dieser Frage nicht um den individuellen Ausgleich eines entstandenen Schadens (zu dem das aktuelle Verfahrensrecht die Verbraucher jedoch zwingt), sondern um die großflächige Prävention gegenüber Fehlverhalten von Unternehmen. Bisher konnten (und dies hat der Dieselskandal nicht zuletzt gezeigt) darauf bauen, dass die sogenannten „rationale Apathie“, also die Akzeptanz eines überschaubaren Schadens durch die Betroffenen, die Verbraucher von der Erhebung einer (kostenintensiven) Klage abhalten wird. Durch eine Gruppenklage mit Online-Registrierung und verbindlicher Schadenshöhe (also gerade nicht individuell, sondern quasi über den Daumen gepeilt) soll dieser Situation abgeholfen werden und, so hoffen die Juristen, die Verbraucher zu einer echten Macht gegenüber den Unternehmen und deren Fehlleistungen erwachsen.

Reform des Rechtsmängelrechts
Die Abteilung Wirtschaftsrecht diskutierte die Notwendigkeit einer Reform des gesellschaftsrechtlichen Rechtsmängelrechts. Vor dem Hintergrund dogmatischer Unstimmigkeiten, unzureichenden Schutzes von Minderheitsgesellschaftern und Wettbewerbsnachteilen von Unternehmen, sprach sich die Abteilung klar für eine erneute Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts aus. Neben der Nichtigkeit der Beschlüsse der Hauptversammlung (die nicht immer dem Willen der Rechtssuchenden entspricht) sollen auch andere Rechtsfolgen vom Gesetz zugelassen werden. Für die weiteren Unternehmensformen sollen entsprechende Regelungen erstmals in das Gesetz aufgenommen werden. Beide der Frage der Implementation von Schiedsgerichten sprach sich eine klare Mehrheit für deren Einführung aus, während nur eine knappe Mehrheit deren Vorsehung auch in der Satzung der Gesellschaft zulassen wollte.

Transparenz bei Non-Profit-Organisationen
Die Abteilung Zivil-, Steuer- und Wirtschaftsrecht sprach sich schließlich für eine Reform des Rechts von Non-Profit-Organisationen, also Organisationen, die Gewinne nur für satzungsmäßige Zwecke erzielen dürfen. Das bisher geltende Gemeinnützigkeitsregime, welches ausschließlich steuerrechtliche Wirkung entfaltet, soll für alle staatlichen Stellen Bindungswirkung entfalten. Gleichzeitig müsse der Wegfall der Gemeinnützigkeit auf schwerwiegende Verfehlungen beschränkt werden und nicht wie heute schon bei kleinsten Verstößen drohen. Außerdem sollen erstmals einheitliche Standards bei der Rechnungslegung und Berichtspflichten gesetzt werden, um so mehr Transparenz zu schaffen. Für privatrechtliche Stiftungen sprach sich die Abteilung für eine freiwillige Aufnahme selbiger in das Vereinsregister und damit dessen Fortentwicklung zu einem Vereins- und Stiftungsregister aus.

Plädoyer für den Rechtsstaat
Spannend waren auch die Ausführungen der Redner in der Eröffnungssitzung zu den aktuellen Fragen des Rechtsstaats. Nicht nur der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Voßkuhle, als Festredner, sondern auch der Präsident des DJT, Prof. Dr. Habersack, die Bundesjustizministerin, Katharina Barley, und der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer, griffen dieses Thema auf.

Mathias Habersack – Präsident des DJT; Bild frei

In einem weiten Bogen vom Fall Sami A., der Weigerung der bayerischen Regierung ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs zu Diesel-Fahrverboten umzusetzen, die Weigerung der Stadt Wetzlar der NPD ihre Stadthalle zu vermieten, trotz einer entsprechenden des Bundesverfassungsgerichts hin zu Sympathiebekundungen von Abgeordneten für die Besetzung Hambacher Forsts, machte Prof. Habersack aus aktuellen Entwicklungen deutlich, weswegen er „recht skeptisch in die nähere Zukunft“ blickt. Auch der Blick nach Polen und Ungarn, in denen die jeweiligen Regierungen versuchen die obersten Gerichte faktisch gleichzuschalten, stimmten ihn nicht positiver.

Katharina Barley, Bundesjustizministerin; © CC-BY 4.0

Bundesjustizministerin Barley stellte in ihrer Begrüßung die Frage, wo es hinführe, wenn rechtsstaatliche Prinzipien immer wieder „kritisiert, in Frage gestellt oder als ineffektive Förmelei abgetan“ würden. Sie verdeutlichte dabei ihren Eindruck, dass sich der Diskurs verschiebe und auch absichtlich verschoben werde. Dabei sei jeder Angriff auf den Rechtsstaat für sich genommen natürlich ein Einzelfall, der auch aus Unbedachtheit geschehen könne, die Maße der Angriffe sei aber erschreckend und zeigten auch Konsequenzen. Äußerungen, wie die des NRW-Innenministers Reul, welcher im Falle Sami A. gesagt hatte, dass sich Gerichte „auch am Rechtsempfinden der Bevölkerung“ orientieren müssten, seien dabei nicht hilfreich. „Wenn Rechtsmittel gegen Behördenentscheidungen nur lange genug diffamiert werden, dann kann das durchaus Einfluss darauf bekommen, wie unser Instanzenzug politisch gestaltet wird“, so Barley. In der Tat zeigte sich dies auch schon im Landtag Sachsen-Anhalt, wie der Rede des Abgeordneten Hövelmann in der von der AfD anberaumten Debatte zu den Vorfällen in Wittenberg und Köthen entnommen werden kann.

Michael Kretschmer, Sächsischer Ministerpräsident; © CC BY-SA 4.0

Ministerpräsident Kretschmer demgegenüber zog deutlich andere Schlüsse aus den dargelegten Beispielen. Er verwies dabei auch zurück auf die Juristen, denn er habe bisher nur ganz wenige Menschen getroffen, „die bei den grundsätzlichen Fragen unseres Grundgesetzes der Meinung waren, diese stimmen nicht“, jedoch seien viele Menschen schlichtweg unzufrieden damit, dass „die Dinge so langsam oder so inkonsequent“ liefen. Vor dem Hintergrund der Beispiele von Abschiebungen und großen Bauvorhaben, die durch Rechtsstreitigkeiten teilweise jahrelang verzögert würden, machte er deutlich, dass dies etwas sei, was zu Verdruss führe und was der Staat mit ganzer Kraft angehen müsse.

Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts; © Sandro Halank, CC BY-SA 3.0

Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle sah in seiner Festrede deutliche Anzeichen, „dass der Rechtsstaat unter Druck gerät“. Dabei könnten einzelne staatliche Rechtsverstöße jedoch nicht die grundlegende Idee des Rechtsstaats diskreditieren. Vielmehr sei es gerade Ausdruck des Rechtsstaats, dass Rechtsverstöße auch staatlicher Instanzen ermittelt, benannt und sanktioniert würden. „Unrecht herrscht erst dann, wenn Recht systematisch missachtet oder sein Geltungsanspruch generell in Abrede gestellt wird“, so Voßkuhle. Den von der großen Koalition in Aussicht gestellt „Pakt für den Rechtsstaat“, welcher die Einrichtung von 2.000 neuen Richterstellen vorsieht lobte er ausdrücklich als Schritt in die richtige Richtung, sieht die anstehenden Herausforderungen damit aber noch nicht als abgeschlossen an. Weitere Anstrengungen seien von Bund und Ländern notwendig. Allerdings wird schon gerade dieser Pakt, wie auf dem Juristentag zu hören war, aus Länderkreisen als politisch tot angesehen, da der Bund bisher nicht dazu bereit sei eine Zusage für einen finanziellen Ausgleich an die Länder zu leisten.

PZ

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