Zu Matthias Jüglers im März 2023 erschienenen Roman „Maifliegenzeit“, der zur Zeit im Programm des Mitteldeutschen Rundfunks (letzte Lesung heute ab 19:005 in MDR Kultur) auch als Hörbuch gesendet wird, und zu Jüglers Beitrag „Geraubte Neugeborene“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. März 2024 gibt die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt, Birgit Neumann-Becker, folgende Erklärung ab:
„Der plötzliche Tod eines Neugeborenen ist für eine Mutter das wohl schlimmste Erlebnis. Versetzt sie die Geburt in einen physischen und psychischen Ausnah-mezustand, ist die unerwartete Mitteilung vom Tod des Babys ein Schockerlebnis. Dies traumatisiert manche Mütter und Familien ein Leben lang. Einige halten sich an der Hoffnung fest, das Kind habe dennoch überlebt, doch verhindert diese Hoffnung letztlich eine Verarbeitung des Traumas. Angesichts des skrupellosen Umgangs mit Menschenleben in der SED-Diktatur, schien und scheint es insbesondere manchen Betroffenenen aus der DDR nicht unwahrscheinlich, der Säuglingstod sei nur vorgetäuscht und das Kind habe, adoptiert von anderen Eltern, überlebt.
Als 2013 die ARD-Fernsehserie „Weissensee“ einen solchen Fall schilderte, kamen viele Frauen zu den Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Hoffnung auf Klärung der näheren Umstände des Verlustes ihres Babys. Denn fest steht: In vielen Fällen ist in der DDR mit den Frauen sehr unsensibel und intransparent umgegangen worden, berechtigte Fragen blieben unbeantwortet. In einer Diktatur gibt es keine Transparenz. Allein meine Behörde in Sachsen-Anhalt hat seit 2013 in knapp 200 Fällen beraten und die Frauen quellenbasiert und multiprofessionell begleitet. Wir nehmen jeden Einzelfall sehr ernst und untersuchen ihn sehr sorgfältig. In keinem Fall konnte jedoch ein Kindesentzug nachgewiesen werden, meistens ließ sich der Tod des Babys plausibel zeigen.
Diese Aufarbeitung half vielen Betroffenen, mit ihrem tragischen Schicksal Frieden zu schließen. In einer von mir angeregten wissenschaftlichen Studie, die mit einem Zeitzeugenaufruf verbunden war, ist dieser Prozess eingehend untersucht worden (Florian Steger/Maximilian Schochow: Wo ist mein Kind? Familien auf der Suche nach der Wahrheit. Ein Beitrag zur Aufarbeitung. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2020).
Zudem fördere ich das Forschungsprojekt „Die Pädopathologie an der Medizinischen Akademie Magdeburg – zum Umgang mit Fehl- und Frühgeburten und mit dem Säuglingstod 1959-1989/90“, das an der Medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg durchgeführt wird. An dieser Universität wird der gesamte diesbezügliche Aktenbestand gesichert, digitalisiert und ausgewertet. Auch in diesem Projekt deutet die Daten- und Quellenanalyse auf keinen tatsächlichen Kindesentzug hin.
Seit Juli 2022 wird am Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung ein umfangreiches dreijähriges und vom Bundesministerium des Innern und für Heimat gefördertes Forschungs-projekt zu „Zwangsadoptionen in der SBZ/DDR von 1945 bis 1989“ durchgeführt, das die Un-tersuchung dieser Problematik einschließt. Auch hier wird jeder Fall möglicher Zwangsadop-tion nach der Toderklärung eines Kindes gründlich und systematisch geprüft.
2018 ist beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen eine Zentrale Auskunfts- und Vermittlungsstelle zum Thema „Zwangsadoptionen in der DDR – Auskunft und Vermittlung eingerichtet“ worden, an die sich Betroffene wenden können. Als für das Land Sachsen-Anhalt zuständige Beratungsstelle unterstützen wir die betroffenen Frauen und Familien, die Zusammenhänge dokumentarisch zu rekonstruieren und multiprofessionell aufzuarbeiten. Wir begleiten sie dabei auch seelsorgerisch und bieten, wenn nötig, auch psychosoziale Unterstützung an.
Leider hat Matthias Jügler bei den Recherchen zu seinem Roman „Maifliegenzeit“ weder die Landesbeauftragte konsultiert noch offenbar die vorhandene Forschung rezipiert. Denn auch wenn in Einzelfällen nicht völlig ausgeschlossen werden kann, das für tot erklärte Kinder dennoch überlebt haben, für einen von Staat oder der Partei systematisch organisierten Ent-zug von Neugeborenen gibt es bislang keine wissenschaftlich haltbaren Belege und keine Plausibilität.
Ein Roman-Autor hat natürlich jede künstlerische Freiheit, sein Thema auszugestalten. Doch auch ein Schriftsteller trägt eine Verantwortung, zumal, wenn er seinen Roman mit Doku-mentation verbindet. Die Art, wie er in dem FAZ-Artikel und in „Maifliegenzeit“ entgegen den wissenschaftlichen Kenntnissen den Säuglingstod in der DDR verarbeitet, kann bei vielen Betroffenen mühsam verheilte Wunden wieder aufreißen und zu einer Retraumatisierung führen, weil er erneut die Hoffnung weckt, das Kind könne überlebt haben.
Als Landesbeauftragte stehe ich für Beratungsanfragen zur biografischen Aufarbeitung und für fachliche Auskünfte zur Verfügung.“
5 comments on “Landesbeauftragte empört über Jüglers Erfolgsroman „Maifliegenzeit“: sie bestreitet „Säuglingsdiebstahl“ in der DDR”
Bin gerade etwas irritiert. Habe heute Abend die letzte Lesung in MDR-Kultur gehört („Lesezeit“, da verpasse ich überhaupt ungern eine Sendung). Es ist erst einmal ziemlich gute Literatur,auch jenseits der Fakten. Im Nachspann teilte die Redaktion dann heute abend mit, dass der Roman auf erwiesenermaßen mindestens drei historischen Fällen basiere. Das lässt mich schon etwas irritiert zurück, wenn die Aufarbeitunfsbeauftragte das alles so vehement bestreitet.
Die Kinder wurde alle an Kinderlose im Westen verkauft,fragt frau Leischütz, die weiss das!
Der Fall Eike und Regina ist ja bewiesen und durch die Medien bekannt und genauso wie im Roman passiert, nur das Regina der Geschichte vom Tod des Kindes geglaubt hat, bis ein erwachsener Mann vor ihrer Tür stand, ihr Sohn. So gar ihr Rentenbescheid weißt den Tod ihres Kindes aus, welches nachweislich lebt! Einzelfall. Solange selbst Frau Neumann-Becker von „bislang keine wissenschaftlichen Belege“ spricht und diesen bewiesen Fall nicht benennt, dürfen Eltern hoffen. Und selbst bei diesem „Einzelfall“ steckt System dahinter, wenn es in einem Überwachungsstaat Ärzte, Behörden für Dokumente, ein Beerdigungsinstitut für das Grab und neue Eltern braucht, um alles zu organisieren. Hier kamen so viele Schritte für eine neue Identität zusammen, dass es eben nicht mal so nebenher passieren konnte und zudem keiner etwas davon mitbekam. Und wenn Frau Neumann-Becker selber davon schreibt, dass Einzelfälle nicht auszuschließen sind, welches Elternteil würde dann die Hoffnung aufgeben, solange es Ungereimtheiten gibt? 2000 Verdachtsfälle auf xy Einzelfälle ist bei der Möglichkeit, dass eigene Kind wieder zu finden eine Chance, die hoffen lässt. Immerhin spielen wir auch lotto mit Gewinnchancen von 0,00000007%. Ruhe werden diese Eltern nicht finden, wenn Frau Neumann-Becker Schlussstriche verordnet, sondern wenn die Fälle alle aufgeklärt sind. Und aus den Facebook Gruppen von Betroffenen für Zwangsadoptionen und vorgetäuschten Säuglingstod kann man erfahren, dass viele Eltern sich bei den Behörden abgespeist gefühlt haben, statt unterstützt, dass die Hilfe lediglich eine Vermittlung zur Trauma Therapie sein sollte. Das ist eine Re-Traumatisierung, weil man weiter gegen Wände und Schweigen rennt. Eike und Regina lassen hoffen, dass auch andere Fälle geklärt werden können. Es bleibt die Frage, wann endlich Täter ihr Schweigen brechen und Verantwortung übernehmen.
@Danke, Karla, für den Beitrag. Ich bin zwar überhaupt nicht selber betroffen, aber die Erklärung der Landesbeauftragten hat mich einfach sehr irritiert, ich verstehe nicht, warum sie die Verbrechen der DDR leugnen will, wo es doch Fälle gegeben hat, auf denen Jüglers (lesenswerter) Roman aufbaut.
Das Problem ist halt diese Fälle nachzuweisen. Das Interesse war lange genug nicht gegeben, man hat spät damit angefangen.
Am Ende muss man halt sagen, es gab ohne Zweifel politisch motivierte Zwangsadoptionen. Die Fälle mit Babys die für Tot erklärt wurden, sind sicher auch „relativ“ selten aber das Problem ist ja, ohne sehr viele „glückliche“ Zufälle kommt es ja nie ans Licht. Die meisten Eltern finden sich irgendwie mit der Nachricht ab. Die Storys wurden ja für gewöhnlich wasserdicht dokumentiert. Kleiner Ausflug in die Neuzeit, der Fall Niels Högel wäre nie Aufgefallen ohne Kommissar Zufall, am Ende sah man mal mindestens 80 Fälle, hier gab es aber auch einen sehr konkrete Verknüpfung. Bei den Fällen in der DDR gab es das nicht. Die Losen Enden sind da entweder Tod, Überzeugungstäter oder wollen keine Konsequenzen.
Fakten die wir wissen, Zwangsadoptionen in vielen Stadien waren ganz ohne Zweifel ein übliches Mittel, das kannte man auch als Ossi eigentlich.
Der Umgang mit „normalen“ Säuglingen und generell mit „Kranken“ war auch eher Rustikal, da gab es auch genug Fälle um unter dem Radar zu schwimmen:
https://www.spiegel.de/politik/stellen-sie-nen-eimer-hin-a-65433cd6-0002-0001-0000-000013680798
Am Ende muss man erstmal feststellen, der Unrechtsstaat DDR hatte da nie Skrupel. Von daher muss man auch feststellen, das diese Fälle absolut im Rahmen dessen lagen, was in der DDR „üblich“ war, Jetzt kann man es natürlich auch als Einzelfälle abtun, das kann bei einzelnen Fällen natürlich möglich sein aber durch die Arbeitsweise der DDR, war es leider üblich glaubhafte Geschichten zu produzieren und da wo es ggf. dokumentiert wurde, da wurden auch nachweislich viele Unterlagen vernichtet.
Da kann man sich auch ganz prominente Fälle anschauen. Da darf man sich überlegen was man über einen IM Notar weiß und was heutzutage Gerichtsfest ist.
Das System war leider sehr perfide, selbst innerhalb der DDR hat man sich ja versucht zu tarnen und auch unbeteiligte haben bei diversen Sachen die Klappe gehalten, da man eben wusste, wer zu viel redet bekommt selbst Probleme.
Hier auf der Plattform merkt man halt auch sehr deutlich, viele Menschen sehen die DDR sehr romantisch, dafür gibt es dann verschiedene Erklärungen, da gab es eben genug Täter, genug Mitläufer, es gab Leute die sich arrangiert haben, dazu gehörte auch Probleme aktiv zu ignorieren und natürlich verdrängt man Probleme in der Erinnerung.
Alleine bei der Stasi reden wir von bis zu ~2,5% der Bevölkerung die involviert waren. Die älteren Semester, die sich nicht in Hemd lügen, wussten auch was passierte. Nach der Wende waren halt viele Menschen überrascht, wie nah dieser Unrechtsstaat einem kam. Aber jeder wusste was Sache ist.
Die Landesbeauftragte hat sicherlich auch einen Punkt, die mit Abstand meisten Fälle von verstorbenen Säuglingen werden nicht damit zu tun gehabt haben, da wird man also den Großteil der Betroffenen falsche Hoffnungen machen, wenn man das Thema öffentlich angeht. Auf der anderen Seite herrschen ja häufig gewisse Eitelkeiten und wenn man sich dann u.a. für eine Studie „feiert“ die 2022 startete, ist das schon so eine Sache. Selbst wenn da die Motivation hoch genug wäre, 32 Jahre später wird man mit einer 0815 Sichtung von dem Rest der paar Akten nicht mehr viel bewegen. Hätte man im Jahr 1990 dort riesige Ressourcen an das Thema gesetzt, dann wäre es schon sehr schwer gewesen irgendwas verwertbares zu finden, jetzt wird es realistisch kaum noch „Einzelfälle“ geben.