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Rechte und antidemokratische Hetze in Halle vor hundert Jahren

Ein Leitartikel in der Saalezeitung vom 25. November 1924

Am 25. November, also vor genau hundert Jahren, erschien auf der Titelseite in der in Halle erscheinenden Saale-Zeitung folgender Kommentar. Der Autor ist unbekannt, ud im Gegensatz zu heutigen journalistischen Gepflogenheiten wurden Nachrichten, Fakten und Wertungen nicht in einer Zeitung getrennt. Eine Interpretation des Textes bringen wir im Anschluss, hier erst einmal der Text:

Die sozialdemokratischen Führer haben vor dem Krieg Deutschland vor allen Völkern verächtlich gemacht. Sie haben alles versucht zu zerstören, was unser Volk nach innen und nach außen stark machte. International sind ihre Führer; diese wollten und wollen kein Vaterland kennen. Sie haben den breiten Massen den Glauben an Gott, die Hoffnung auf die deutsche Zukunft und die Liebe zum Vaterland verleidet. Kein Staat sei so schlecht wie der deutsche, nur der Sozialismus bringe das Heil auf Erden.

Endlich hatten sie es geschafft.
Am 9. November 1918 gehörte alle Macht dem Volke, das heißt, den Führern der Sozialdemokratie. Die Republik war da, dem Sozialismus waren alle Wege offen. Scheidemann rief: „Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt!“
Eine neue Zeit kroch heran.

Was 1870 die französische Revolution als ihre erste Pflicht ansah, nämlich die Republik zu schützen, daran dachte kein Genossenführer. Die junge deutsche Republik wurde von denen im Stich gelassen, die vierzig Jahre lang nicht für sie gekämpft, sondern gehetzt und gelogen hatten. Keinem Franzosen, die in Köln mit Reitpeitschen den „Scheidemannschen Sieg des Volkes auf der ganzen Linie“ in rauhe Wirklichkeit umsetzten, wurde ein Haar gekrümmt. Aber wenn sie einen deutschen Offizier sahen, rissen sie ihm die Abzeichen ab und bespuckten ihn.
Franzosen hin, Franzosen her – es lebe die Republik!

Unterdessen wurde die junge Republik von alten und jungen Republikanern in aller Gemütsruhe ausgeplündert. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde verschoben und gestohlen – der mehrfache Wert unserer Kriegsschulden. Die vom Volk nicht beauftragten „Volksbeauftragten“ regierten. Im Lande ging alles drunter und drüber. Aus vielen Hunderttausenden Menschen waren Räte geworden: Arbeiterräte, Soldatenräte, Elternbeiräte, Mieterräte, Fahnenflüchtigenräte.

Aber Rat wusste niemand.
Nur in einem Punkte wusste man Rat.

Der sozialistische Hunger nach Krippen wurde gestillt. Er war ungeheuerlich, aber es wurde geschafft. Was wurde nicht alles geschaffen: Oberpräsident, Regierungspräsident, Oberregierungsrat, Regierungsrat, Botschafter und Landrat, Oberbürgermeister und Stadtrat usw. Neue Behörden wurden errichtet, neue Ministerien gebildet – mit zehntausenden Krippen. Wie gesagt und gesungen: Mit ihnen kam die neue Zeit. Spartakus, der auch die Front von hinten mit erdolchen half, sah sich um seinen Lohn betrogen.

Es kam der Krieg der Republikaner und Pazifisten untereinander.
Artillerie, Maschinengewehre und Minenwerfer entfalteten in der Reichshauptstadt, im Ruhrgebiet, in München, Mitteldeutschland usw. fieberhafte Tätigkeit. Offiziere und vaterländische Verbände retteten Republik und Vaterland vor dem Untergang – und Herrn Scheidemann vor der Kugel oder Handgranate, mit der die Sozialisten und Spartakisten den Sozialismus gegeneinander verteidigten.

Sozialismus heißt Arbeit – kennt ihr noch dieses schöne Wort? Aber es wurde auch in die Tat umgesetzt. Man machte Geld. Alles, was in einem Menschenalter erspart, erarbeitet oder mündelsicher angelegt worden war – sogar das den Sparkassen anvertraute Geld der Ärmsten – wurde geschickt in die Taschen der Revolutionsgewinnler geleitet.

Als die zwanzig Goldmilliarden Spargelder verschwunden waren, kauften dieselben Leute ihren Opfern mit diesem „sozialisierten“ Gelde noch die Sachwerte ab. An jeder Ecke gab es eine Goldankaufsstelle – dieses Gewerbe wurde nicht sozialisiert.

Bild: Geldtransport-fuer-die-Lohnauszahlung-eines-kleinen-Betriebes-waehrend-der-Inflation-Deutsches-historisches-Museum-Inv-F-75589-5e2ca69adf1645009f87eda767ec528c.jpg. Als der Text in der Saale-Zeitung enstand, war die Hyperinflation gerade ein JAhr vorbei, die Rentenmark war eingeführt worden.

Wälder wurden in Papiermark umgewandelt. Die Löhne wurden wöchentlich, täglich, ja fast stündlich erhöht. Hilferding wurde Finanzminister. Sechs Wochen lang blieb er es, bis Helfferich durch die Rentenmark ihn und die Papiermark vom Sessel stieß. Bis dahin war der Triumph des Sozialismus vollkommen: Das ganze Volk war zu Milliardären gemacht. 7.999 verschiedene Geldsorten gab es in Deutschland. Hübsche Bilder, auf denen stand: „Eine Milliarde zahlt die Reichshauptbank“ usw. Aber der Konsumverein gab dir keine Schachtel Streichhölzer dafür.

Zehn Milliarden bar und blank bekamen die Sozialrentner, zehntausend Millionen Mark. Dafür mussten sie allerdings fünf Stunden in Kälte und Regen stehen – die 70-Jährigen, die Krüppel, die Veteranen der Arbeit. Sozial ist der Sozialismus ja nicht. Und wenn sie mit den Milliardenscheinen ihr bisschen Gas bezahlen wollten, dann lachte sie der sozialistische Gaskassierer des sozialistischen Magistrats aus und drehte ihnen das Gas ab. Triumph des Sozialismus!

Das Volk murrte.
Das souveräne Volk wollte aufstehen. Eine andere Regierung wollte es haben. Man konnte deutlich hören, dass es im Gebälk knisterte – im Gebälk des Sozialismus. „Neuwahlen! Neuwahlen!“ dröhnte es durch die Luft, und die Sessel der Führer bebten. Alle von der Partei des Herrn Scheidemann wussten, dass dies sie betraf. Sie konnten diese laue Forderung nicht mit einer Aktennotiz eines Berliner Stadtrats und Genossen abtun: „Bedrückt mich nicht!“ Wenn damals im September 1923 gewählt worden wäre, kurz und klein wäre die Partei geschlagen worden.

Deshalb wurde nicht gewählt.
Man schob alles hinaus – auch die Wahl des Reichspräsidenten. Aus dem souveränen Volk war nun eine unmündige Masse gemacht worden. Aber alle Krippen waren geblieben. Gott sei Dank! Vergesst nicht so schnell, ihr lieben Deutschen, vergesst nicht so schnell! Ihr wisst doch noch, wie all die Fremden Wohnungen bekamen – schöne Wohnungen in den besseren Stadtvierteln. Der Himmel und die Wohnungsämter mögen wissen, wie das möglich war. Aber dass 99 Prozent der Wohnungsämter Sozialdemokraten unterstanden, das weißt du und ich und alle Welt.

Groß war die Not. Zum Himmel schrie der Jammer unserer Kinder und Alten. In den Urwäldern Amerikas hallte ihr Jammer wider. Man schickte den vom Sozialismus Beglückten Hilfe. Aber zugleich zeigte alle Welt mit dem Finger auf die Luxushotels der Schweiz. Dort saß eine Unzahl Deutscher, die angesichts der Not in Deutschland herrlich und in Freuden lebten. Es waren die reich gewordenen Revolutionsgewinnler – aber mitten unter ihnen saß Gustav Noske.

Er ist zwar ein Deutscher, aber ein Sozialdemokrat.
Die Franzosen wurden frech und frecher. Das Ruhrgebiet hatten sie besetzt. Hunderttausende wurden von Heimat und Herd vertrieben – Kinder und Greise, Schwangere und Wöchnerinnen. Die Kulturnation Europas zeigte ihre besten Seiten. Schwarze Franzosen vergewaltigten blonde deutsche Mädchen. „Vive la France!“ rief der Sozialdemokrat Wendel 1913 im Reichstag. Sein Wunsch ging in Erfüllung. Frankreich lebte – ja, es lebte sich aus, satanisch, also echt französisch.

Vaterländische Männer, denen die Röte in die Stirn stieg über solche Schmach, Männer, die nicht um Geld und Krippen kämpften, warfen sich einzeln der französischen Soldateska entgegen. „Abenteurer und Verbrecher“ nannten sie die Sozialisten. Und mit Klauen und Zähnen bekämpften sie jede Möglichkeit, den Ruhrkampf zu gewinnen. Er durfte nicht gewonnen werden – die Krippen wären sonst zum Teufel gegangen.

Was schrieb doch einst der General in der Zeitung Le Matin, das Blatt Nollet?
Es schrieb General Nollet, der Deutschland in jeder Hinsicht ausspioniert hatte, dass er von Anfang an durch Pazifisten und Arbeiterorganisationen in wirkungsvollster Weise unterstützt worden sei.
Die Roten waren sich und damit unseren Feinden treu geblieben.

Vergesst das nicht, vergesst das nicht!

Genosse Hoffmann, Führer der SPD in der Pfalz, versuchte mit dem französischen Besatzungsgeneral de Metz die Pfalz loszureißen und unter dem Schutz Frankreichs selbstständig zu machen.
Er wurde ertappt, aber heute noch ist er der Führer in der Pfalz.

Duftende Blüten hat die Partei hervorgebracht!
Nach und nach ist der Sozialismus zu den Kommunisten geflohen. Die gesamte Sozialdemokratische Partei ist von ihm frei geworden.
Sie ist zu einer völlig charakterlosen Partei geworden.

Zweierlei Leute gehören zu ihr:
Solche, die schon an der Krippe sind, und solche, die noch an sie heran wollen.

Keinem ehrlichen Arbeiter können sie gerade in die Augen sehen.
So verächtlich ist keine Partei der Welt, keine ist so moralisch zusammengebrochen.

Aber sind unter dem alten Staat jemals die Gefängnisse mit politischen Verbrechern so gefüllt gewesen wie unter dem Zepter der Sozialdemokraten?
In hundert Jahren der Monarchie wurden nicht so viele Zeitungen verboten wie in einem halben Jahr unter Herrn Severing.

Früher trugen die Schutzleute einen Säbel, und der rostete ihnen in der Scheide fest. Heute muss sich ein Polizist mit Säbel, Revolver, Gummiknüppel und Handgranaten herumschleppen.
Ach, es ist alles anders geworden. Aber besser?

Der Vorwärts, das bekanntlich verlogenste Blatt der Erde, hatte am 19. Oktober 1924, am Tag vor der Auflösung des Reichstages, einen lichten Augenblick.
Er schrieb, dass vor dem Krieg die Löhne in Deutschland am höchsten, die Arbeitszeit am kürzesten und die Arbeiterschutzgesetzgebung am besten auf der ganzen Erde gewesen seien.

Und damals herrschte die Reaktion!
Und keiner von den vielen zehntausenden Sozis saß an so einflussreicher Stelle wie heute.

Aber jetzt brüllen sie wieder durch die Gassen, die Bonzen dieser Partei. Sie wollen dir wieder vorlügen, dass nur der Sozialismus dich retten kann.
Als ob nichts geschehen wäre.
Als ob der ganze von Schimpf und Schande gepflasterte Weg der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands durch einen Wahlkampf wieder sauber werden könnte.

August Bebel hat gesagt: „Seht euch eure Führer an!“
Ja, seht sie euch an, genau, gewissenhaft und mit klaren Augen. Dann werdet ihr wissen, weshalb jetzt schon Millionen Angestellte und Arbeiter dahingegangen sind, wohin auch du um deiner und Deutschlands willen gehen musst. Du musst dazu beitragen, dass die verächtlichste Partei aller Parteien am 7. Dezember zerschlagen wird und dass die Parteien die Zügel in die Hand nehmen, deren Schild blank, deren Wille deutsch, deren Gesinnung nicht wie der Wille der Sozialdemokratie scheinbar sozial, sondern in der Wirksamkeit ihrer Arbeit wahrhaft sozial ist.

Deren Ziel ist Freiheit, Friede und Brot – die schwarz-weiß-roten Volksparteien!

Zu den Hintergründen:

Der polemische Text stammt eindeutig aus einer extrem konservativen, antisozialistischen und nationalistischen Feder. Er greift die Sozialdemokratie (SPD) und den Sozialismus scharf an und wirft ihnen Verrat an Deutschland, moralischen Verfall und die Zerstörung des deutschen Staates vor. Er bezieht sich auf Ereignisse wie:

  1. Die Novemberrevolution von 1918: Der Sturz der Monarchie und die Ausrufung der Republik.
  2. Die Hyperinflation von 1923: Eine der dramatischsten Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik.
  3. Die Ruhrbesetzung (1923–1925): Die französische und belgische Besetzung des Ruhrgebiets, die in der rechten und konservativen Presse häufig als nationale Demütigung dargestellt wurde.
  4. Kritik an der Sozialdemokratie und den Arbeiterbewegungen: Vorwürfe gegen die SPD und Spartakisten, sie hätten durch ihre Politik zur Zerrüttung Deutschlands beigetragen.

Die Polemik, die martialische Sprache und die ideologische Aufladung spiegeln den politischen Diskurs und die Polarisierung jener Zeit wider. Solche Texte wurden häufig von nationalistischen, antidemokratischen oder rechtsgerichteten Autoren verfasst.

Der große deutsche Tag in Halle, an welchem große Heerführer und tausende Nationalgesinnter teilnahmen, um das vor einem Jahr von Kommunisten zerstörte Moltkedankmal wieder einzuweihen. Der Fahnenwald der Nationalverbände auf der Festwiese der Rennbahn. Bundesarchiv Bild 102-00402

Besonders die SPD wurde von nationalistischen Kräften oft als „Verräterpartei“ gebrandmarkt, da sie die Novemberrevolution unterstützte und die Republik mitbegründete.

  1. Der Autor beschuldigt die SPD, die nationale Einheit zu verraten, den Sozialismus gefördert und Deutschland geschwächt zu haben.
  2. Der Vorwurf, die SPD habe mit Frankreich kollaboriert oder die Abtrennung deutscher Gebiete unterstützt (wie hier im Fall der Pfalz erwähnt), war ein typisches Narrativ rechter Propaganda.
  3. Wirtschaftliche Krisen und politische Gewalt:
    • Die Weimarer Republik war geprägt von wirtschaftlichen Krisen (z. B. der Hyperinflation von 1923) und politischen Unruhen, die sowohl von links (Kommunisten) als auch von rechts (Monarchisten, Nationalisten) geschürt wurden.
    • Die SPD war als Regierungspartei (z. B. unter Friedrich Ebert oder Gustav Noske) häufig Zielscheibe, da sie versuchte, die fragile Demokratie zu stabilisieren.
  4. Nationalistische Rhetorik:
    • Der Text idealisiert die Zeit des Kaiserreichs („Reaktion“), in der angeblich Löhne hoch, Arbeitszeiten kurz und die Arbeiterrechte stark gewesen seien, während die aktuelle Situation als chaotisch und moralisch verkommen dargestellt wird.
    • Der Aufruf, die SPD bei Wahlen („am 7. Dezember“) zu „zerschlagen“, deutet darauf hin, dass der Text möglicherweise aus der Zeit vor den Reichstagswahlen im Dezember 1924 stammt. Der Text verwendet eine stark polarisierende, aggressive Sprache, um die SPD zu delegitimieren und andere Parteien, vermutlich rechtskonservative oder monarchistische Kräfte, als Retter darzustellen. Er spiegelt die Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft in der Weimarer Republik wider, die letztlich in die Machtergreifung der Nationalsozialisten mündete.

Zusammengefasst handelt es sich um ein propagandistisches Dokument aus der frühen Weimarer Republik, das aus einer antidemokratischen, vermutlich nationalistischen Perspektive verfasst wurde, um die SPD und die Weimarer Demokratie zu diskreditieren.

3 comments on “Rechte und antidemokratische Hetze in Halle vor hundert Jahren”

  1. Gruselig, in der Tat. Dabei für die moderne Aufmerksamkeitsspanne arg lang.
    Die Erläuterungen sind ehrenwert, allerdings würde mich mehr interessieren, ob die Saale-Zeitung so eine lokale Monopolstellung hatte wie heute die MZ, oder ob die Zeitungslandschaft damals bunter war.

  2. In der Tat schockierend, der Duktus, weil er so an die heutige Brüllererei von Rechts erinnert. Die Saalezeitung hatte aber nicht das Monopol in der Stadt, es gab m. W. noch den Generalanzeiger und etliche kleinere Zeitungen.

    Mit der heutigen Situation ist das nicht zu vergleichen, die MZ hat zwar heute unter den Printmedien das Monipol, aber die haben dank Rundfunk und seit 20 Jahren den Internetmedien weniger Bedeutung. Bei letzteren aber ist für mich die anfängliche Euphorie verflogen. Auch hier sind die Brüllmedien auf dem Weg zum Monopol, ich meine nicht nur Halle, sondern Phänomene wie TwitterX, Ffratzenbuch etc.

  3. Die „Machtergreifung“ war dann nur 9 Jahre später, der Beginn des zweiten Weltkriegs 15 Jahre später. Nach 20 Jahren lag Europa in Schutt und Asche. Hundert Jahre danach „murren“ die gleichen Idioten wieder wie damals. Wer mittleren oder älteren Lebensalters ist, weiß, wie schnell diese Jahre vorübergehen.

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