Marschlied, Mutter und Friedhöfe

20. Dezember 2017 | Bild der Woche | Ein Kommentar

Wenn ich an die gesuchte Pflanze denke, erinnere ich mich sofort an 4 Dinge: den würzigen dunklen Honig von geleeartiger Konsistenz, ein Marschlied, meine Mutter und Friedhöfe. Da die meist rosafarbenen Blüten ziemlich klein, dafür aber zahlreich sind, bedarf es wirklich enormen Bienenfleißes, um nutzbare Honigmengen zu produzieren. Kein Wunder, dass der aromatische Zuckersaft ziemlich teuer ist. Die immergrüne Pflanze hat das Erscheinungsbild eines kriechend aufsteigenden Zwergstrauches mit besenartigen Verzweigungen. Die Blättchen sind nadelförmig. Fast alle ihrer zur selben Gattung gehörenden Verwandten leben im südlichen Afrika. Sie gedeiht auf nährstoffarmen Böden. Durch jahrhundertelanges Abstechen der obersten humosen Bodenschicht (Abplaggen), die als Einstreu bei Stalltieren verwendet wurde, entstanden z.B. in Norddeutschland großflächige und landschaftsprägende Vorkommen der gesuchten Pflanze. Die lateinische Bezeichnung dieser anthropogenen Landschaft findet sich im Gattungs- bzw. in den Artnamen wieder. Man kann die Pflanze mit verschiedenen Blütenfarben ganzjährig kaufen. Gern wird sie als anspruchsloser, ausdauernder Bodendecker verwendet. Die Kräuterbücher des 16. Jahrhunderts rühmen die gesuchte Pflanze als schleimlösendes, harn- und schweißtreibendes Mittel, das bei Nierensteinkrankheiten, Gicht und Rheumatismus, Augenentzündungen, Leibschmerzen zu gebrauchen sei. Als wirksame Bestandteile wurden Flavonoide (Kämpferol, Quercetin, Myricetin), Glykoside (Arbutin) und Gerbstoffe identifiziert.

(Hans Ferenz)

 

Auflösung der letzten Pflanze der Woche: Mimose, Sinnpflanze, Rührmichnichtan

… und wenn doch? Dann klappe ich meine gefiederten Blätter sekundenschnell ein und senke den Blattstiel. Bis zu einer Stunde benötige ich, um mich vom Schreck der Berührung, der Erschütterung, des Hitzeschocks oder Ähnlichem zu erholen. Und vor allem ihr Kinder: Reizt mich nicht absichtlich, das schwächt mich und schmälert meine Reaktionsfähigkeit. Nachts muss ich doch ohnehin alle Blätter einfalten, ich brauche also meine Kraft dafür. Oder auch für die Blüte, diese kleinen, rosafarbenen Flauschkugeln, die ich im Sommer trage. Dabei seht ihr vor allem meine rosa Staubblätter und später eine Fruchthülse mit Samen, die problemlos ausgesät werden können. Als rasch wachsende Mimose bin aber sehr anspruchsvoll, du musst mich gut pflegen hier in der Fremde, und vor Reizen schützen. Eigentlich bin ich eine brasilianische Schönheit, derer man hier heutzutage aber häufig antreffen kann (- nicht nur an der MLU). Solange man meine Sensibilität wahrt, geht es mir gut.

Hochsensibilität und Fruchtfliegen

Karrikatur auf die Mimose von dem französischen Künstler Isidor Gerard Garndville (1803-1847 in der Ausgabe „fleurs-animees“

Manch einer spricht bei mir sogar von Hypersensibilität, und damit bewege ich mich im Kreise von einem Fünftel der Menschheit und mancher Fruchtfliege. Das ist keine Krankheit! Hochsensible Menschen sind in vielen Bereichen sehr sensitiv, was hinsichtlich des körperlichen Wohlfühlbereichs irritieren mag, auf der zwischenmenschlichen Beziehung aber durchaus vorteilhaft sein kann. Der hochsensible Mensch lebt häufig sehr bewusst, tiefgründig, sich intensiv auf Beziehungen einlassend – falls er auf jemanden trifft, der ihn versteht, der ihm eine Atmosphäre von Stabilität, Vertrauen und Ehrlichkeit zu vermitteln vermag.

Reaktion der Mimose auf Berührung ((c) Wiki commons)

Trotzdem ist jeder Hochsensible individuell unterschiedlich, bei all der stärker ausgeprägten Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken im Vergleich zu den meisten Menschen. Trifft der hochsensible Mensch auf einen empathischen Partner, sucht (und findet) er (hoffentlich) innige, geistige Nähe, eine emotionale und gedankliche Verknüpfung. Letztendlich seelischen Gleichklang. Wie schön kann es sein, sich auf einen hochsensiblen Partner einzulassen, aneinander zu wachsen. Der Normalsensible könnte dabei lernen, seine eigenen Wahrnehmungen zu intensivieren und nach und nach auch die eigene Bedürftigkeit besser zu erkennen und anzunehmen. Falls er sich auf die doch auch häufig aufreibende „Mimose“ einlässt.

 

Du findest, das klingt alles anstrengend? Ja, mir mangelt es am Reizfilter, alles strömt bewusst und unmittelbar auf mich ein. Für eine lange Freundschaft ist es hilfreich, meine hohen Ansprüche zu respektieren. Bitte sorge dafür, dass es mir nicht zu kalt, nicht zu trocken ist, kein Luftzug und keine direkte Sonne mich fordert, rauche bitte nicht, bewahre mich vor Erschütterungen, ich mag es stressfrei. Oberhalb der Heizung finde ich es dann gut, wenn du die Luft mit Feuchtigkeit schwängerst. Dann wachse ich sogar so schnell, dass ich rasch einen neuen Topf möchte, einen mit feuchter Erde, aber ohne Staunässe. Lockere, humose Erde wäre ideal.

Bitte, sieh meine Empfindsamkeit nicht als Schwäche, als etwas, was „falsch“ ist. Ich bin eben nicht „Durchschnitt“, sondern zarter besaitet. Lohnt es sich nicht, meine Geheimnisse zu ergründen? Mein Wahrnehmen von Reizen und die Reaktion darauf – das ist Leben (und die Antwort auf Frage Nr. 4)!

All die anderen Fragen hat Userin Elfriede hervorragend beantwortet. Mimosa pudica oder „Touch-me-not“ als mein englischer Name. Ich habe sehr viele Verwandte, meine gesamte Gattung Mimosa ist artenreich. Die in Deutschland bekannteste Mimose, eben DIE Mimose (Mimosa pudica), wurde hier genauer beschrieben. Elfriedes gelbblühender Mimosenstrauch auf Madeira könnte eine Silber-Akazie sein, die ebenfalls zur Hülsenfrüchtler-Unterfamilie der Mimosoideen gehört. Diese Unterfamilie mit deutschem Namen Mimosengewächse ist sehr umfangreich und wird daher nochmals in drei Tribus (Acacieae, Ingeae, Mimoseae) mit nochmals zahlreichen Gattungen unterteilt. Also, Elfriede: Deine aus Australien stammende Silber-Akazie oder auch Falsche Mimose ist in Südeuropa häufig anzutreffen (- Mimosen sind invasiv), und sie besticht mit leuchtend gelben Blütenständen sowie typisch paarig gefiederten Blättern, die zumindest auch nachts eingeklappt werden.

Die Lust an der Bewegung

Was bewegt nun die Sinnpflanze, also die echte Mimose dazu, sich zu bewegen? Ein Pflanzenhormon verändert den Druck in der Pflanze. Ob sie sich dadurch gegen Fraßfeinde schützen will, ist noch unklar. Es handelt sich um Turgorbewegungen, die wir schon einmal im Artikel über die Sonnenblume beschrieben hatten (- gerne nachzulesen bei „Helianthus annuus: nach Jamaika mit der Kraft der Sonnenblume“, https://hallespektrum.de/bild-der-woche/notruf-vierjaehriger-packt-orange-beeren-aus-und-isst-sie/299900/). Die Mimose führt dabei von der Reizrichtung unabhängige Bewegungen aus. Es handelt sich um Nastien, Krümmungsbewegungen, deren Orientierung durch den Blattaufbau bestimmt ist. Der Reiz wirkt dabei nicht nur auf ein einzelnes, berührtes Blatt, sondern wird auch innerhalb der Pflanze auf benachbarte Blätter und auf den Blattstiel chemisch-elektrisch weitergeleitet. Ein umherstreifendes Tier, das den Boden erschüttert und die Mimose zur Turgorbewegung veranlasst, wird die Mimose daher nicht mehr als sättigungsverheißendes Blattgrün wahrnehmen, sondern weiterziehen. Steigt der osmotische Druck in den Zellen der Pulvini (- das sind bei der Mimose drei Arten von teils mit Borsten besetzten Blattgelenken) wieder, sieht die Mimose aus wie zuvor. Kein Haar wurde ihr gekrümmt.

Beim zart besaiteten Menschen dagegen, der drohende Verletzungen bestenfalls rechtzeitig erkennt und sich zu schützen vermag, sind Rückzugsbewegungen nicht immer so reversibel. Manches Mal trägt er auch seelische Narben davon.

(A.S.)

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