Herr Sakura und der Wunderbaum

10. Mai 2021 | Bild der Woche | 3 Kommentare

Herr Sakura, Austauschstudent aus Osaka an der „Burg“ in Halle, hatte lange auf diesen Tag gewartet. immer wieder war er an der Stelle im Park vorbeigegangen, wo er das Schauspiel des Baums erwartete, doch das ließ dieses Jahr im viel zu kalten Deutschland lange auf sich warten. Längst hatte seine Freunde und Verwandte selbst aus den nördlichen Teilen von Hokkaido den Eintritt des feierlichen Ereignisses vermeldet. Von einer immer weiter gen Norden sich vorarbeitenden Linie  war da jedes Jahr wieder die Rede, die Rundfunksender verbreiteten das tägliche Vorrücken der Front.  

Heute aber war es so weit, befand Sakura, und bewaffnet mit einer Rolle Reispapier, Zeichenbrett und Tusche hatte er sich bereits kurz nach Sonnenaufgang in den großen grünen Park seiner Gaststadt Halle aufgemacht. Zu seiner Verwunderung bemerkte er, dass offenbar auch unter den Deutschen jene seltsame Sitte seiner Heimat Einzug gehalten hatte. Schon in den Morgenstunden dieses 8. Mai war ein Fotograf im Schlepptau  einer Familie samt Oma, Opa, Eltern, Tanten und Kleinkind angerückt. Der Fotograf hatte eine Schaukel mitgebracht, die er in den Baum hängte, das Kind wurde draufgesetzt, das unaufhörlich schrie, als es angestoßen wurde, offenbar saß der hoffnungsvolle Nachwuchs zum ersten mal auf einer Schaukel, was unbedingt für Nachwelt und Familien-Whatsappgruppe auf Speicherkarte gebannt werden musste.

Die Eltern zirpten urgermanische Worte wie „teiteitei“ und fuchtelten dem Schreihals mit allerlei albernem Spielzeug  vor der Nase herum, während der Fotograf seinerseits Mühe hatte, seinen Spiegelschirm  gegen im kräftigen Frühlingswind zu zähmen. Darauf erschienen noch mehrere Hochzeitsgesellschaften sowie Großfamilien mit halbwüchsigen, aufgetakelten, lustlos dreinblickenden  Jugendlichen, alle jeweils mit einem Tross von Fotografen und Gehilfen im Gefolge, wild untereinander verhandelnd,  wer von ihnen als nächster unter den Baum dürfe, wieder andere kamen und ließen sich auf mitgebrachten Picknickdecken nieder.  „Die Deutschen kopieren halt alles gerne, was aus Asien kommt, im Nachmachen sind sie Weltmeister“,  befand  Sakura, als er sich endlich dran machte, mit Pinseln und Tusche den Boten des Frühlings zu Papier zu bringen.

Um welchen Bau es sich handelt, fragen wir unsere Leser, wo in Halle man diese Wunderbäume wohl findet, und auch, um was für ein fernöstliches Ritual es sich da handeln könnte, das um solche Bäume herum gefeiert wird. Auch deren botanische  Art möchten wir wissen, wenngleich sie aus dem Text allein nicht genau hervor geht – aber mit dem Bild könnte sie  halbwegs eingegrenzt sein.. 

Auflösung der letzten Pflanze der Woche („Großkatze gibt Gummi“): Taraxum ruderalis (ssp.)

Unser User(in) NhuDeng hatte einige Pflanzenteile unserer „Katzencollage“ erkannt: tatsächlich suchten wir nach dem ganz gemeinen Löwenzahn. Erst einmal. das, was wir in Deutschland Löwenzahn, „Kuhblume“ oder „Pusteblume“ nennen, ist ein Sammelsurium eng verwandter Spezies, die zur Gattung Taraxum zusammengefasst werden können und untereinander genetisch derart stark variieren, bastardisieren und Mutieren, dass selbst gewiefte Botaniker kaum in der Lage sind, die Arten genau auseinander zu halten. Verwirrend ist, dass auch ein einzelner Bestand zu Polyploidie neigt: es gibt diploide (solche mit doppeltem Chromosomensatz, deren Nachkommen können schon mal den vierfachen bekommen, und deren Nachkommen sind zum teil triploid und steril. Mit so etwas beschäftigen sich Botaniker. Interessanter sind aber die vielfältigen praktischen Aspekte der Pflanze, die wohl jedes Kind kennt, schon wegen des hübschen Spiels mit den „Pusteblumen“. Deren Flugsamen sind auch verantwortlich dafür, dass sich die Pflanze weiträumig als „Unkraut“ etabliert, und so ziemlich alle Biotope besiedelt, bis hin zu den Fugen zwischen Pflastersteinen.

 

Noch wenig verbreitet ist hierzulande der Löwenzahn in der Küche als Gemüse: die Rosetten der Pflanze, vor der Blüte geerntet, sind ein schmackhaftes, leicht bitteres Gemüse. Besonders beliebt sind die im Dunklen aufgezogenen, gebleichten Sprossen (dazu wird einfach ein lichtdichter  Eimer über die Pflanze gestellt). Zubereitet werden sie, indem man sie kurz dünstet oder blanchiert, und dann mit Öl und etwas Zitronensaft angemacht. Die harntreibende Wirkung der Bitterstoffe haben der Pflanze in Frankreich, wo sie häufiger verzehrt wird, ihren Namen gegeben: Pissenlit, „Piss-ins-Bett“.

Was hat es mit dem Kautschuk auf sich? der Milchsaft der Pflanze, der beim Abreißen der Stängel oder Verletzen der Wurzel austritt, enthält Latex, ein Gummi-Vorprodukt, das dem Naturkautschuk aus den klassischen Kautschukbäumen ebenbürtig ist. Besonders viel Kautschuk enthält die Wurzel eines nahen Verwandten unseres heimischen Löwenzahns, der Russische Löwenzahn (Taraxacum kok-saghyz). In den 1930er Jahren entdeckten russische Wissenschaftler, dass diese Pflanze eine wirtschaftlich interessante Alternative zum begehrten Kautschukbaum sein könnte, man startete Großversuche und gelangte fast bis zur Produktionsreife. Im 2. Weltkrieg wurde der Russische Löwenzahn und das entsprechende Know-How Beute der Wehrmacht. Daran schloss sich ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte an, unter Zwangsarbeit in Kriegsgefangenenlagern, ab 1942 auch im KZ Auschwitz, wurde an Löwenzahn experimentiert. Nachlesen kann man das hier:https://www.faz.net/aktuell/wissen/natur/gummi-aus-loewenzahn-von-der-kriegsforschung-zur-neuen-biotechnologie-1548622-p2.html.

Die Verfügbarkeit von Kautschuk (für LKW-Reifen etc.) war fast so kriegsentscheidend wie die von Benzin, Löwenzahn wäre eine Alternative zu dem schwierig zu importierenden Naturkautschuk gewesen, denn mit synthetischem BUNA-Kautschuk allein ließen sich keine funktionierenden Reifengummis herstellen (bis heute übrigens nicht).

Auch heute forscht man übrigens wieder am „Russenlöwenzahn“, da mittlerweile noch ganz andere Vorteile in den Fokus rücken: es ist ein nachwachsender Rohstoff, der auch auf schlechten Böden und in kühlen Klimazonen angebaut werden kann.

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