Pflanze der Woche, 27.Januar – 2. Februar 2025
Anfangs hatte Heino nur ein leichtes Jucken am rechten Auge bemerkt. In den folgenden Tagen aber verstärkte sich das Gefühl, und eines Morgens fragte Elfriede ihn: „Was hast du denn da oben am Lid für einen merkwürdigen Pickel?“
„Sieht man das?“ fragte Heino irritiert und stellte sich vor den Spiegel. Dort entdeckte er tatsächlich einen roten, harten Knubbel. Blöderweise war Wochenende, und da er zunehmend beunruhigt war, beschloss er, das Internet nach einer Diagnose zu durchforsten.
„Die schlimmsten Hypochonder sind die, die nicht zum Arzt gehen, sondern ihre Diagnose ergoogeln“, schimpfte Elfriede, als sie ihn dabei ertappte.
Am nächsten Tag hatte sich ein deutlich sichtbarer Eiterfleck gebildet. „Nicht aufstechen, hörst du?“ herrschte Elfriede ihn an, als sie sah, wie er mit einer spitzen Nagelschere an seinem Auge herumhantierte. „Das gibt eine Blutvergiftung, und am Kopf kann das lebensgefährlich werden!“ warnte sie.
Heino spürte, wie sein Auge tränt, denn die dicke Blase drückte unangenehm. Doch Elfriede hatte, während sie heimlich selbst im Netz recherchierte, ihre eigene Theorie entwickelt. „Ich weiß, was das ist“, verkündete sie schließlich. „Man muss da gar nichts machen. Das entleert sich von selbst. Sonst musst du halt doch zum Arzt.“
Da sie jedoch überzeugt war, dass ihre Diagnose korrekt war, beschloss Elfriede, ein Heilmittel zur Unterstützung zu brauen. „Gleiches heilt Gleiches“, erklärte sie und schlug die Herstellung eines „heilenden und psychisch aufhellenden“ Tranks vor – aus den Früchten einer besonderen Pflanze, denn Chemie kam für sie nicht in Frage.
Die Früchte waren überraschend leicht zu beschaffen: Dank des Internets und eines Bio-Versandhändlers, der alles Mögliche an Hülsenfrüchten und Körnern anbot, landete bereits am nächsten Tag ein Kilo dieser Früchte bei ihnen zu Hause. Die Lieferung kostete knapp drei Euro, plus fast fünf Euro Versand.
„Und wie willst du daraus Saft machen?“ fragte Heino skeptisch.
„Auspressen geht nicht, viel zu hart“, meinte Elfriede.
„Dann vielleicht Tee?“
„Nein, Dummkopf. Man muss die Früchte erst einweichen. Drei Tage lang.“
„Igitt, das schleimt doch total“, schüttelte sich Heino. Er machte sich mittlerweile mehr Sorgen um seine Gesundheit wegen Elfriedes Experiment als wegen seines Auges. In der darauffolgenden Nacht platzte die Blase tatsächlich auf, und der klebrige Eiter lief in sein Auge. Aber die Schmerzen waren weg.
Elfriede jedoch ließ sich von diesem Erfolg nicht beirren. Sie hatte die eingeweichten Früchte bereits auf einem Backblech auf die Heizung gestellt. Nach fünf Tagen roch die Masse unangenehm – „spermatisch“, wie Heino sagte, ein Ausdruck, den Elfriede obszön fand, der den Geruch aber gut beschrieb.
„Jetzt kannst du das aber wirklich wegwerfen“, riet Heino.
„Nein, das kommt jetzt in den Ofen. Da wird es desinfiziert.“
Sie schob das Blech tatsächlich in den Ofen, stellte die Umluft auf 70 Grad und ignorierte Heinos Protest, als er sie eine „Pflanzenbabymörderin“ nannte. Tatsächlich hatten sich kleine, weiße Wurzelchen gebildet. Nach der Ofentrocknung goss sie Wasser auf die Früchte, pürierte sie mit dem Mixer und kochte die Masse auf. Der Geruch erinnerte Heino an Schweinefutter aus seiner Zeit auf einem Bauernhof.
Elfriede filterte die Brühe, aber Heino war neugierig und probierte ein paar Tropfen. „Ui, das ist ja süß.“
„Ja, aber noch nicht fertig.“
Die Brühe stand eine Woche lang an einem warmen Ort, begann zu schäumen und roch zunehmend merkwürdig. „Wie vergoren“, kommentierte Heino. „Ist da wenigstens Alkohol drin?“
„Klar, aber nicht für dich.“
„Will ich auch nicht“, murmelte er und ging zur Getränkehandlung, um sich den wöchentlichen Kasten Bier zu holen.
Als er zurückkam, sah er Elfriede wieder am Herd. Sie kochte die Brühe mit Sellerie, etwas Suppengemüse, Zitrone und verquirltem Ei auf. Zu allem Überfluss fügte sie auch noch Perlgraupen hinzu, obwohl sie wusste, dass Heino diese genauso wenig mochte wie den Sellerie von letzter Woche.
Am Abend saßen die beiden zu Tisch. Heino löffelte die schleimige Suppe widerwillig, aber sein Bierkrug tröstete ihn etwas. „Das ist eines der ältesten deutschen Küchenrezepte“, dozierte Elfriede. „So aßen es schon die armen Bauern und die Fürsten am Hof.“
„Wir haben es heute gut“, dachte Heino und nahm einen großen Schluck Bier, um den süß-säuerlichen Geschmack mit Sellerienote herunterzuspülen.
„Schau mal“, sagte Elfriede stolz. „Jetzt hast du die Früchte in dreifacher Form zu dir genommen.“
„Wie bitte?“ fragte Heino verwundert.
Fragen an die Leser:
- Um welche Früchte handelt es sich?
- Was hatte Heino am Auge?
- Warum ließ Elfriede die Früchte verkeimen? Was sollte das bewirken?
- Wie nennt man den Saft, den sie hergestellt hat?
- Was war das für eine „altdeutsche Suppe“? Kennt jemand ein gutes Rezept dafür?
- Wieso hat Heino die Pflanze in dreifacher Ausführung im Magen?
- „Gleiches heilt Gleiches“ sagte Elfriede. Was für eine alte Theorie liegt dem Satz zu Grunde?
Auflösung der letzten Pflanze der Woche: („Stinkendes Gemüse“): Apium graveolens, Sellerie
Richtig, Elfriede und Gork,
Gork hatte recht: Natürlich suchten wir den Sellerie, den die Römer Apium nannten und die Griechen Selinos, nach ihrer gleichnamigen Kolonie und Stadt, die am Fluss Selinos in Sizilien lag. Nein, nicht Syrakus – das hat Nhu Deng richtig korrigiert. Auch in Syrakus (was nichts mit Syrien zu tun hat), das ebenfalls eine griechische Kolonie auf Sizilien war, münden zwei Flüsse, an deren Ufern das einzige natürliche Vorkommen von Papyrus wächst.
Beide Städte besitzen frühgriechische, dorische Tempel. In Syrakus gibt es die Überreste des Apollontempels, beeindruckender aber sind die Tempel von Selinunt. Auf Selinunt hätten aufmerksame Bildbetrachter kommen können: In Elfriedes Küche (also der literarischen Elfriede) hängt links neben dem Fenster ein kleiner Grundriss von Tempel E von „Selinonte“. Neben den Tempeln von Paestum gehören diese zu den beeindruckendsten dorischen griechischen Tempeln. Griechenland selbst hat heute weitaus weniger imposante Exemplare. Die Säulen der Tempel von Selinunt zeichnen sich durch konkave Kanneluren ohne Zwischenstege aus. Tatsächlich erinnern sie an das Profil von Selleriestängeln.



Allerdings handelt es sich bei der Pflanze, die damals im Mündungsbereich des Selinos wuchs, nicht um den heutigen Sellerie. Die damalige Wildform, ein Doldenblütler, bevorzugte feuchte bis sumpfige Stellen und warme Gegenden. Sie gedeiht aber auch bei uns. Viele Menschen lieben Sellerie (wenn sie nicht gerade Selleriefeinde sind – es gibt tatsächlich Menschen, die den Geruch nicht mögen – oder allergisch reagieren). Sellerie ist der Hauptauslöser von gemüseinduzierten Allergien. Da er ein nahezu universelles Gewürz ist, ist das für Allergiker besonders ärgerlich.
Heute gibt es Sellerie in verschiedenen Zuchtformen: Stangensellerie, Knollensellerie und Blattsellerie. Die Petersilie, mit der die Pflanze als Doldenblütler übrigens verwandt ist, hat ihren Namen ebenfalls vom Sellerie bekommen: Petroselinum bedeutet nichts anderes als „Felsensellerie“.
Zu den Bemerkungen von Elfriede: Carl von Linné, der der Pflanze ihren gültigen wissenschaftlichen Namen gab – Apium graveolens –, schien auch keinen Sellerie zu mögen. Graveolens bedeutet „stark riechend“ oder „stinkend“. Linné vergab die Bezeichnung graveolens auch an einige weitere Pflanzen, deren Geruch ihm „etwas bizarr“ erschien: beispielsweise die Weinraute (Ruta graveolens) oder das Charaktergewürz seiner schwedischen Heimat, den Dill (Anethum graveolens).
Weitere Pflanzen der Woche findet Ihr in unserem Archiv – seit 2016, ohne Auslassung, jede Woche eine.
3 comments on “Augenpickel und Zaubertrank”
Ach je, was nun gegen ein G E R S T E N K O R N? Wahrhaftig schmerzhaft und sehr erleichternd, wenn der Eiter abfließen kann.
Alles Angeführte ist mir ein Rätsel. Vielleicht helfen Gerste oder andere Körner?
Ich grüble schon den ganzen Tag darüber nach, was für einen Saft man wohl aus Gerstenkörnern gewinnen kann. Eiter wird es wohl nicht sein.
Na haste noch nischt von B r a u j e r s t e jeheert? Nee, wa? De siffelst ehmd dein Rodwein….. Na, da mache weider, ich gläre dr nich off, n9scht Jenaues weeß’ch nämich ooch nich…
Jezz hattch mr jar nich anjemeldt…un’s jink drozzdem. In D glabbt ehmd jar nischt mehr.