Über 70 Prozent der Jugendlichen empfinden Gewalt in ihrer Stadt als ernstes Problem – Polizei und Universität legen umfangreiche Untersuchung vor
Eine neue Studie der Polizeiinspektion Halle (Saale) in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zeigt deutlich (Wir berichteten) : Die Sorge vor Jugendgewalt ist in der Saalestadt tief verankert – nicht nur bei der Polizei, sondern vor allem bei den Jugendlichen selbst. Befragt wurden im Zeitraum zwischen November 2023 und März 2024 rund 3.400 Schülerinnen und Schüler an 18 Schulen. Ziel war es, die reale Kriminalitätslage mit dem subjektiven Sicherheitsgefühl der jungen Bevölkerung abzugleichen – und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für Schule, Polizei und Stadtgesellschaft abzuleiten.
Die Ergebnisse sind alarmierend: 71 Prozent der befragten Jugendlichen empfinden Gewalt in Halle als ernsthaftes Problem. Dabei zeigt sich ein deutlicher Unterschied je nach Schulform – Gymnasiasten äußern sich insgesamt etwas weniger besorgt als Schüler von Gesamt- oder Sekundarschulen. Gleichwohl ist die Unsicherheit in allen Gruppen spürbar.
Schläge, Bedrohungen, Raub: Erfahrungen in Schule und Freizeit
Fast zwei Drittel der Befragten gaben an, bereits mit gewalttätigen Situationen in Berührung gekommen zu sein – sei es durch eigene Erfahrungen, Beobachtungen oder Hörensagen. Besonders häufig genannt wurden Schlägereien (57 %), gefolgt von Beleidigungen und Bedrohungen (53,5 %) sowie Raubdelikten (36 %). Letztere sind häufig unter dem Begriff „Abziehen“ bekannt – das gewaltsame Wegnehmen von Wertgegenständen, wie Smartphones oder Kleidung.
Auffällig ist die zeitliche und räumliche Verortung: Übergriffe ereignen sich vor allem in den Nachmittags- und Abendstunden, mit Schwerpunkten in öffentlichen Räumen wie Straßen und Treffpunkten. Zwar sind Schulen selbst ebenfalls betroffen – insbesondere durch Diebstähle und Sachbeschädigungen –, doch die Freizeit gewinnt zunehmend an Bedeutung als Risikobereich.
Waffen als Statussymbol? Jugendliche berichten von Konfrontationen
Ein weiterer beunruhigender Befund betrifft das Mitführen und Herumzeigen von Waffen. Zwar gab die Mehrheit (65 %) an, bislang keine direkte Erfahrung damit gemacht zu haben – dennoch berichteten knapp ein Viertel der Jugendlichen, bereits in Situationen involviert gewesen zu sein, in denen Messer oder Pfefferspray offen gezeigt wurden.
„Wir wollen mehr Präsenz – und ernst genommen werden“
Neben der nüchternen Analyse bietet die Studie auch einen Einblick in die Wünsche und Erwartungen der Jugendlichen. Ganz oben auf der Liste: mehr sichtbare Polizeipräsenz, verstärkte Kontrollen, Aufklärung über Gewalt und Jugendkriminalität, sowie eine stärkere Aufsicht im Schulumfeld. Zudem wurde vielfach der Wunsch geäußert, ernst genommen zu werden – ein Appell, der weit über polizeiliche Maßnahmen hinausgeht.
Die Studie zeigt auch: Präventionsangebote der Polizei, wie Workshops und Aufklärungsveranstaltungen an Schulen, stoßen auf positive Resonanz. Dies sollte aus Sicht der Autoren konsequent ausgebaut werden.
Ermittlungsgruppe „Cornern“ als Reaktion auf steigende Fallzahlen
Die Untersuchung ist auch vor dem Hintergrund eines drastischen Anstiegs jugendlicher Gewaltdelikte zu verstehen. Seit Ende 2021 registriert die Polizei einen markanten Anstieg von Raub- und Körperverletzungsdelikten unter jungen Tatverdächtigen. Als Reaktion wurde im April 2022 die Ermittlungsgruppe „Cornern“ gegründet, die seither intensiv ermittelt und dabei bislang 290 Tatverdächtige identifizieren konnte. Insgesamt wurden über 43.000 Einsatzstunden geleistet und 1.100 Personenkontrollen durchgeführt.
Polizeichefin Annett Wernicke: „Verunsicherung bleibt hoch“
Die Direktorin der Polizeiinspektion Halle (Saale), Annett Wernicke, zieht ein gemischtes Fazit:
„Mit großem Aufwand ist es uns gelungen, die Situation wieder zu beruhigen. Doch die Verunsicherung unter den Jugendlichen ist weiterhin sehr hoch. Mit unserem Netzwerk werden wir deshalb weiter nachhaltige Maßnahmen vorantreiben, um Halle für junge Menschen sicherer zu machen.“
Die vollständigen Ergebnisse der Studie sollen im April über den Verlag für Polizeiwissenschaft veröffentlicht werden. Bereits jetzt ist jedoch klar: Es braucht ein gemeinsames Engagement von Polizei, Schulen, Justiz und Stadtgesellschaft, um Jugendgewalt effektiv zu begegnen – und das verlorengegangene Sicherheitsgefühl junger Menschen zurückzugewinnen.