(Quelle: MDR) In der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt ist ein Fund gelungen, der Fachleute europaweit in Erstaunen versetzt: Bei der Digitalisierung eines reformatorischen Buches stießen Mitarbeitende auf ein rund 1.100 Jahre altes Pergamentfragment. Es handelt sich um ein Stück der antiken Medizinschrift „De materia medica“ („Über medizinisches Material“) des griechisch-römischen Arztes Pedanios Dioskurides – eines der bedeutendsten Werke der antiken Heilkunst.
Das Fragment war im 16. Jahrhundert als Einbandmaterial wiederverwendet worden – eine damals übliche Praxis. Nach ersten Analysen stammt das Pergament aus dem 9. Jahrhundert. „Das ist ein absoluter Glücksfall“, sagte Bibliotheksdirektorin Anke Berghaus-Sprengel. „Viele antike und mittelalterliche Texte sind nur noch in Fragmenten überliefert. Vielleicht entdecken wir hier sogar Varianten, die in anderen Handschriften fehlen.“
Antikes Wissen über Feigen als Heilmittel
Der Textabschnitt befasst sich mit der Wirkung von Feigen: Getrocknete Früchte sollen gegen Blasen- und Nierenleiden helfen, frische Feigen wirken als mildes Abführmittel. Dioskurides, der vermutlich als Militärarzt im römischen Heer diente, beschrieb in seinem Werk über 800 pflanzliche, tierische und mineralische Heilmittel, die von Griechen, Römern und anderen Kulturen der Antike genutzt wurden.
Fund aus der Alvenslebenschen Bibliothek
Entdeckt wurde das Fragment bei der Digitalisierung der Alvenslebenschen Bibliothek, einer bedeutenden Renaissance-Privatsammlung. Ihr Begründer, der Humanist Joachim I. von Alvensleben (1514–1588), sammelte Werke aus Theologie, Philosophie und Naturkunde. Die Bücher befinden sich heute in der Außenstelle der Universitäts- und Landesbibliothek auf Schloss Hundisburg im Landkreis Börde.
Bis 2027 sollen rund eine Million Seiten dieser Sammlung digitalisiert werden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt mit über 800.000 Euro. „Wir entdecken dadurch bislang unbekannte Quellen wie dieses Dioskurides-Fragment“, erklärte Projektleiterin Jana Adolph.
Ein Fenster in die Wissenschaft der Antike
Die Entdeckung erlaubt Einblicke in die Textüberlieferung der antiken Medizin und in die Buchkultur des 16. Jahrhunderts. Das Pergament wird nun restauriert, untersucht und digital zugänglich gemacht. „Solche Funde zeigen, dass historische Sammlungen immer noch Überraschungen bergen“, so Berghaus-Sprengel.
Was ist die Materia Medica?
Das Werk „De materia medica“ wurde um das Jahr 60 n. Chr. von Pedanios Dioskurides aus Anazarbos verfasst, einem Arzt und Pharmakologen im Dienst des Römischen Reiches. Es umfasst fünf Bücher, in denen rund 1.000 Naturstoffe – vor allem Pflanzen, aber auch tierische und mineralische Substanzen – beschrieben und ihre Wirkungen erläutert werden. Dioskurides vermerkte unter anderem, dass Feigen Blasenleiden lindern, Polemonia (Jakobsleiter) gegen Skorpionstiche helfe und bestimmte Kräuter Schlangenbisse abwehrten.
Über Jahrhunderte war das Werk das zentrale Arzneibuch Europas – die Grundlage medizinischen Wissens bis ins 19. Jahrhundert. Die Historikerin Paula De Vos sieht in dieser erstaunlichen Beständigkeit ein Zeichen der empirischen Stärke des Werkes: Seine Wirksamkeit sei über Generationen hinweg durch Erfahrung bestätigt worden.
De materia medica wurde bereits im 9. Jahrhundert ins Syrische und Arabische übersetzt und beeinflusste die arabische wie die europäische Medizin gleichermaßen. Noch im 20. Jahrhundert war das Buch auf dem Berg Athos in Gebrauch – Mönche nutzten es als botanisches Nachschlagewerk, um Heilpflanzen zu bestimmen.