Spannende Belege für frühe Anatomiestudien aus Wittenberg
16. Januar 2017 | Bildung und Wissenschaft | Keine KommentareDen Besucher der Alchemie-Ausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle „begrüßt“ sehr auffällig ein „ramponierter“ Schädel. Symbol dafür, dass sich die Alchemisten den Schädel darüber „zerbrachen“, wie man den Stein der Weisen findet? Mitnichten! Der Schädel weist auf eine weitere Sensation dieser Ausstellung hin, nämlich auf frühe anatomische Studien in Wittenberg.
Eine erfolgreiche Behandlung von Krankheiten und Verletzungen setzt bekanntlich gute Anatomie-Kenntnisse bei den behandelnden Ärzten voraus. Das Wissen um die Anatomie und die Funktionsweise von Organen des Menschen war bei den Ärzten bis ins 16. Jahrhundert allerdings sehr gering. Wegweisend waren die Werke des Griechen Galenos von Pergamon, der als kaiserlicher Leibarzt in Rom tätig war (129-201). Seine Krankheitslehre stützte sich umfassend auf anatomische Kenntnisse. Galenos Werke prägten über mehr als 1000 Jahre die ganze europäische Medizin. Denn die Gelehrten begnügten sich bedauerlicherweise damit, Galensche Lehrmeinungen ungeprüft und unkommentiert zu übernehmen. Man hielt sie für endgültige Erkenntnisse. In der christlichen Frühzeit wurden anatomischen Studien sogar auf das Schärfste verdammt. Hier tat sich insbesondere der Kirchenvater Augustinus mit seinem Werk „De Civitate Dei“ (um 420) hervor. Ein offizielles direktes kirchliches Verbot von Sektionen ist allerdings weder in Konzilsaufzeichnungen noch in päpstlichen Dekreten nachweisbar. Erst um ca. 1000 erinnerte man sich, insbesondere in Italien, wieder an das frühere anatomische Wissen („Schule von Salerno“). Der Staufferkaiser Friedrich II. erließ 1231 sogar Prüfungs- und Studienordnungen, in denen anatomisches Schulwissen zur Voraussetzung für die Ausübung des ärztlichen Berufes war. Zumeist wurde das unzureichende Wissen durch Präparationen beim Vorlesen alter Werke, also durch Demonstrationen oberflächlich vermittelt. Für die anatomischen Studien verwendete man die Leichname Exekutierter. Kirche und Öffentlichkeit waren strikt gegen die sogenannte „Zerstückelung der Leichen“. Anatomische Studien gerieten in Verruf.
Doch der Drang nach Wissen und Verstehen war nicht aufzuhalten. Bei den archäologischen Ausgrabungen im ehemaligen Franziskanerkloster in Wittenberg fand man nicht nur die Reste einer Alchemiewerkstatt, sondern auch Skelettreste von zwei Individien, die deutliche Spuren anatomischer Studien tragen. Die Schädel waren offenbar vom Rumpf abgetrennt worden, um z.B. Studien an Augen und Ohren durchzuführen. Bei beiden Schädeln war das Schädeldach abgesägt. Die Archäologen sind sich sicher, dass diese Funde zu zwei historisch dokumentierten Sektionen (1526 und 1534) gehören. Sie belegen das frühe Bemühen, Krankheiten nicht nur mystisch zu erklären, sondern auch ihre organischen Ursachen zu verstehen. Man besann sich zunehmend auf das Wissen aus der Antike und auf irdische Probleme. Medizinhistorisch sind diese Skelettfunde aus der Zeit der Frührenaissance deshalb außerordentlich bedeutsam.
In diese Zeit fällt das bemerkenswerte Wirken von Daniel Sennert, ab 1602 Professor für Medizin in Wittenberg. Er lehrte über Anatomie. In den Auseinandersetzungen der Mediziner, versuchte er zwischen den alten Anschauungen und den neuen der Anhänger des Paracelsus zu vermitteln. Sennert reformierte die Arzneimittellehre und hat diese in das Medizinstudium integriert.
Neben seinem großen Können als Anatom widmete er sich hauptsächlich den inneren Krankheiten. Er erkannte als einer der ersten Scharlach als eigene selbständige Krankheit. Ferner hat er die Vornahme des (ersten sicher nachweisbaren) Kaiserschnittes, den der Wittenberger Wundarzt Jeremias Trautmann im Jahre 1610 in Wittenberg ausführte, beschrieben. Durch sein Eintreten für die von Paracelsus vertretene revolutionäre „chemische“ Anschauung in der Heilmittellehre förderte er diese und wirkte in hohem Maße anregend auf die Weiterbildung der Chemie und ihre Einführung in die Medizin.
Archäologische Funde und historische Dokumente unterstreichen eindrucksvoll die Bedeutung von Wittenberg für die Chemie, Pharmazie und Anatomie in dieser Zeit sowie den Aufbruch zu neuen bedeutsamen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Die „Alchemie – die Suche nach dem Weltgeheimnis“ ist im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle noch bis zum 5. Juni 2017 zu sehen.
Link: Weitere Informationen auf den Seiten des Landesmuseums
HJ Ferenz