Liebesleben? Es ist kompliziert.

14. August 2017 | Bild der Woche | 9 Kommentare

Klein und weiß, und unzählig sind sie, die kleinen weißen Samen, die mit ihrem langen Schwänzchen ein bißchen wie Kaulquappen aussehen, eingebettet in den glibbrigen, klebrigen Schleim, um dann, durch leisen Druck plötzlich aus ihrer Heimstatt hinauszuspritzen – was für ein Genuss und sinnliche Freude. Besonders im Mund.

Diagnose: unfruchtbar. Hier kann auch der Sexualmediziner nichts mehr tun.

Nur so wird aus den Samen nichts. Kein neues Leben entsteht, wenn sie durch den Schlund des menschlichen Empfängers, gierig und genußvoll heruntergeschluckt werden, und schnöde in den Verdauungstrakt wandern.  Aber auch, wenn sie auf fruchtbaren Mutterboden gefallen wären – vergeblich. Denn leider – unser Patient (zumindest dieses Exemplar) ist steril. Dennoch bereitet unsere Pflanze lustvolle Erlebnisse, wenn sie auch – in unseren Breiten – sich etwas zickig verhält, und man halt ziemlch viel fummeln muss. Manch Fürst, König sogar, hielt sie in seinen Glashäusern, in wärmeeren Gegenden Deutschlands sogar im Freien. Auf Sex, auf geschlechtliche Fortpflanzung also, muß sie bei uns verzichten, was aber dem Genuß keinen Abbruch tun muss.

Unsere Fragen:

Wie heißt die Pflanze?

Wo stammt sie her?

Und: wie sieht das aus, mit dem Liebensleben. Was ist denn da so kompliziert?  Wir wollen natürlich alles mögliche hören, von „Bienen“ und Blüten und so weiter, also, Ihr wisst schon.

(H.W.)

Auflösung der letzten Pflanze der Woche (7.-13. August 2017)

Veitstanz auf dem Markt, in der Stadt des ewigen Roggens?

Zugegeben, das ist ein wilder Ritt durch eine Reihe von Themen, die alle nur randlich mit unserem Roggenkorn (Goldmedaille an Agricola!) in Verbindung stehen. Angefangen hat die Geschichte mit Halles Tanz-Jan, den User Wolli auf dem Markt beobachtet und gefilmt, und in Folge im Forum die Frage nach dem Warum aufgeworfen hatte. Weil User SfK den Begriff des Veitstanzes ins Spiel gebracht hatte, ohne aber unser Hallesches Original abwerten zu wollen, war auch diesem Begriff nachzugehen.  Dazu kam Hei-Wus Ausritt ins Antoniusfeuer und Agricola, der schon die Poaceen richtig ins Spiel gebracht hat, informierte sich als Feinschmecker über den griechischer Haghios-Fanourios-Kuchen. Schließlich wurde auch noch der Stich der Tarantel erwähnt – warum?

Roggenkorn, Makroaufnahme. Die kindlichen Assoziationen mit dieser Aufnahme mögen sich von denen der Erwachsenen unterscheiden.

 

 

Beginnen wir mit der Auflösung der Pflanze: Das allerwerteste Getreidekorn, das hier unter dem Digitalmikroskop betrachtet wurde, ist die Frucht des aus der Familie der Gräser stammenden Secalecereale, des Roggens. Angebaut wird er als Winterroggen und etwas weniger als Sommerroggen, genutzt wird er durch Mensch und Tier. (Dunkel gefärbte) Brötchen, länger haltbares Brot, vollmundiges Bier und lieblich-milder (?) Wodka als verarbeitete Roggenprodukte stehen wahrscheinlich bei vielen unserer Leser täglich auf der Speisekarte. Der aromatische Roggen bietet unter den Getreidesorten die beste Quelle von leicht zerlegbaren Ballaststoffen, die den Cholesterin- und Glukosespiegel im Blut senken helfen. Roggen ist in Deutschland recht beliebt, trotzdem erstaunt es, dass Deutschland der weltweit größte Roggenproduzent ist (Stand 2014).

Secale cereale, Roggen. (Wikimedia commons)

Vom Mutterkorn zur Tanzkrankheit

Eine Gefährdung des Roggen konsumierenden Menschen erwächst aus dem stark giftigen Mutterkornpilz Clavicepspurpurea. Er infiziert mit Vorliebe Roggenblüten und lässt hier anstelle des sich kollektiv einordnenden Roggenkorns ein langes, braunes, härteres Gebilde entstehen, das sogenannte Mutterkorn (Secalecornutum)(jawoll, Agricola!). Dieses enthält hoch toxische Alkaloide, welche bei Ingestion auch schon in Spuren Darmkrämpfe, Halluzinationen und Durchblutungsstörungen hervorrufen. Letztere bedrohen unsere Gliedmaßen mit dem sog. Ergotismus, auch alsAntoniusfeuer bzw. Mutterkornbrand bekannt. Wenn man einige Gramm des Mutterkorns verabreicht, drohen sogleich tödliche Atemlähmung und Kreislaufkollaps.

Im ausgehenden Mittelalter wurde eine epidemisch auftretende Volkskrankheit als Symptom der Mutterkornvergiftung gesehen: Die Tanzwut, die als psychogenes und massenhysterisches Phänomen aufgetreten sein muss. Menschenmengen tanztenekstatisch bis zur völligen Erschöpfung, mit aus dem Mund quellendem Schaum und klaffenden Wunden. Es folgte der Zusammenbruch oder sogar der Tod. Die wichtigsten Tanzwut-Ausbrüche fanden 1374, 1463 und 1518 länderübergreifend im Rhein-Mosel-Maas-Raum statt.

Diskutiert wurden auch andere Auslöser dieser Tanzkrankheit, die ebenso unter dem Namen Veitstanz bekannt war: Beispielsweise religiöse Wahnvorstellungen, eine Vom-Teufel-Besessenheit. Infolgedessen wurde der Heilige Veit angerufen, der zum Ende des 3. Jahrhunderts in Rom wirkte. Wie sich diese Tanzwut geäußert hat, ist ausdrucksstark beschrieben in Funke’s/Lippold’s Neuestem Natur- und Kunstlexicon von 1826: „Schnell wechselnde Krämpfe in den Muskeln der äußeren Glieder, wodurch so heftige und mannigfaltige Bewegungen des Körpers hervorgebracht werden, daß der Kranke das Ansehen eines Tanzenden und Springenden bekommt. …..Die Kranken laufen in der Stube herum, springen auf Tische und Bänke, und mit bewundernswürdiger Schnellkraft an den Wänden hinauf.“ Der Name „Veitstanz“ für dieses Phänomen wird in diesem Buch auf eine Geschichtezurückgeführt, laut derer an Tanzwut erkrankte Frauenzimmer zu einer schwäbischen Wallfahrtskapelle namens St. Veit gepilgert sind, sich dort ins Delirium tanzten und dadurch von der Krankheit, die sonst täglich auch mehrmals mit Anfällen von bis zu einer Stunde auftreten konnte, für ein ganzes Jahr verschont blieben. Dass dieses Tanzen nicht ein Symptom, sondern eher eine Therapie der Mutterkornvergiftung darstellen könnte, wird also auch diskutiert.

Tarantella und tote Fische als rhythmisches Antidot

Um das Gift (- sei es nun durch den Mutterkornpilz, oder aber durch den Biss der Tarantel bzw. einer anderen Spinne) schnellstmöglich auszuschwitzen, war es in Süditalien üblich, dass Musiker ins Haus der Vergifteten gerufen wurden, um die unkontrollierten Bewegungen in einen Rhythmus zu zwingen. Der eine mag bei diesem schnellen Volkstanz, der Tarantella (https://youtu.be/yo3ld1ksYCI), eher an Chopin denken, der andere an Folkstanz in Halle. Wer den Tanz lernen möchte, möge es hiermit versuchen:

https://youtu.be/yhnYq9MqVyw. Bemerkenswert ist auch die Begeisterung junger Männer:

https://youtu.be/nwyK6JttVA8. Und auch das ist eine Tarantella: https://youtu.be/dfwSXcecBp8.

Trotz der Assoziation zu schönen Tänze ist der Genuss von Mutterkörnern zu verteufeln. Umso mehr, wenn man weiß, dass der Schweizer Chemiker A.Hofmann im Jahre 1943die Substanz Lysergsäurediethylamid aus Mutterkörnern extrahiert hatte. Entwickeln wollte er ein Kreislaufstimulans, gefunden hat er eines der stärksten  bekannten Halluzinogene, nämlich LSD. Dass auch dessen gefährlicher Genuss wieder mit Tanz in Form von Technopartys oder Raves in Zusammenhang steht, könnte auf eine Gemeinsamkeit hinweisen: Die Suche nach ekstatischer Erfahrung. Auf den ersten LSD-Trip begab sich der Entdecker unbeabsichtigt selbst: Drei Tage nach der Entdeckung nahm er eine kleine Menge der weiß-kristallinen Substanz, bemerkte aber nach weniger als einer Stunde seltsame Wahrnehmungseinschränkungen, sodass er vorzog, von seinem  Labor nach Hause zu fahren. Er setzte sich auf sein Fahrrad und legte die Strecke als echten Fahrradtrip zurück. Der weltweit zelebrierte Bicycle Day (19. April) erinnert jährlich an dieses Ereignis. Hofmann selbst nannte die Substanz „mein Sorgenkind“ (und wurde trotzdem 102 Jahre alt).

Roggenanbau

Um den Mutterkornbefall der Roggenähren zu  reduzieren, sind bei Standortwahl, Pflanzenbau und Sortenwahl Vorsichtsmaßnahmen treffen. Das zu verarbeitende Getreide muss gereinigt werden, das erfolgt in der Mühle idealerweise über einen Farbausleser, weniger modern z.B. mittels Sieben, Saugfilter oder speziellen Längenauslesern.

Worauf Agricola weiterhin angespielt hat, ist der sogenannte „ewige Roggenanbau“ der Martin-Luther-Universität, das in Halles Osten sein Dasein fristet. Wohlgemerkt als anerkanntes Kulturdenkmal. Ein Roggenfeld, das seit mehr als 130 Jahren durchwegs mit Roggen bestellt wurde, ohne Rücksicht auf modernes Agrarmanagement mit regelmäßigem Fruchtwechsel. Das ist ein Rekord für einen Dauerfeldversuch in Deutschland! Noch 45 Jahre länger wird in England ein Feld immer gleich bepflanzt, Weltrekord. Bei Roggen scheint es gut zu funktionieren, Fruchtfolgeempfehlungen zu missachten, wie auch an anderen Orten (z.B. Breslau) mit jahrzehntelangem Anbau gezeigt werden kann. Auf dem von Julius Kühn angelegten Roggenfeld in Halle wurde inzwischen erkannt, dass Mineraldüngung und Stalldüngung mit äquivalenten Nährstoffmengen die gleichen Erträge erbringen.Sollten wir also zur  hochmittelalterlichen Einfeldwirtschaft zurückkehren? Mit dieser und weiteren Fragen (Wie schmeckt jetzt eigentlich eine Fanouropita?) entlassen wir unsere Leserschaft – wenn sie sich nicht schon mit dem neuen Pflanzenrätsel befasst.

(A.S.)

Julius Kühn

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